Kung Fu Fiction
Enrique Martinez: Erlebnisse eines
hoffnungslosen Kung Fu-Schülers
Kapitel I - Ma Bu und die Suche nach dem eigenen Zentrum
"Nicht bewegen!"
Ich schwitzte, zitterte und keuchte.
"Das Wesen der tiefen Reiterstellung", dozierte Meister Sun,
"besteht in einer mächtigen, abwärts gerichteten Kraft."
Er betrachtete mich einige Zeit nachdenklich und fragte schließlich:
"Verstehst du, was ich damit sage?"
"Ja, die Stellung
"
"Es genügt, wenn du nickst!"
Sun spielte die Rolle des Gelehrten. Selbstverständlich war er ein
Gelehrter, aber hin und wieder machte er sich einen Spaß daraus,
seine Schüler zum Narren zu halten indem er Theater spielte. Häufig
hatte er es dabei gerade auf mich abgesehen, weil er die Ansicht vertrat,
es fehle mir an Humor. In der Tat konnte ich es nicht ausstehen, wenn
Sun in eine seiner Rollen schlüpfte. Es ging mir auf den Geist.
"Diese abwärts gerichtete Kraft verleiht dem Kämpfer einen
stabilen, im Boden wurzelnden Stand", fuhr Sun fort und musterte
mich erneut.
Meine Oberschenkel bebten, aber ich war fest entschlossen, die Übung
nicht abzubrechen. Für einen erfahrenen Kung Fu-Schüler ist
das Scheitern keine ungewöhnliche Erfahrung. In der Kampfkunst scheitert
man ständig. An diesem Tag jedoch wollte ich so lange stehen, bis
selbst Sun der Spaß vergehen würde. Nicht, daß ich wütend
auf meinen Meister gewesen wäre. Ich spürte überhaupt keinen
Zorn, nicht einmal gegen mich selbst. In mir war nichts als diese düstere
Entschlossenheit.
"Ein Kämpfer, der nicht stehen kann", sagte Sun ohne mich
aus den Augen zu lassen, "wird unzählige Niederlagen erleiden,
ganz gleich, wie vollendet er alle anderen Techniken beherrscht."
Ich habe mich oft gefragt, worin Suns Motive bestanden, wenn er
uns drillte. Dabei kam mir hin und wieder der Gedanke, daß hier
neben all den geheimnisvollen Triebkräften seiner Seele ein gewisser,
ziemlich banaler Sadismus am Wirken war.
"Jede Technik, sei es ein Schlag mit der Faust, ein Stoß mit
der Schulter oder auch ein Griff, jede Technik bezieht ihre Kraft aus
dem Stand", erläuterte Sun weiter, ohne jenes Zittern zu kommentieren,
das inzwischen meinen gesamten Körper schüttelte.
Ich hatte bereits vor Jahren aufgehört, mich mit Spekulationen über
die Beweggründe meines Meisters zu beunruhigen, obwohl ich ihn wirklich
von Zeit zu Zeit verdächtigte, einfach ein bösartiger, zumindest
verrückter alter Mann zu sein. Allerdings schienen mir auch die meisten
anderen Menschen nicht ganz dicht zu sein, und so führten mich meine
Überlegungen in dieser Sache zu folgendem Schluß: Im Grunde
bleibt nur zu wählen, mit welcher Sorte von Verrückten man sein
Leben verbringen will. Man muß nach solchen Irren suchen, die zum
eigenen Wahnsinn passen.
"Ist der Stand miserabel, dann werden auch Schlag, Stoß und
Griff miserabel sein."
Sun schien zu spüren, daß ich nicht gewillt war, klein beizugeben.
Da ich aber so gut wie nie durchschaute, was in seinem Kopf vorging, wußte
ich auch in diesem Augenblick nicht, welche Gedanken er sich über
meine Entschlossenheit machte. Möglicherweise interpretierte er sie
als Widerstandshaltung, als Weigerung einzusehen, daß ich in spätestens
zwei Minuten mit verkrampften Muskeln steif wie Brett umfallen würde.
Vielleicht erfreute es ihn aber auch zu sehen, wieviel Mühe sich
sein Schüler gab. Ich wußte es einfach nicht.
"Deshalb wird gesagt, daß man nicht kämpfen kann",
setzte Sun die Unterweisung fort, "bevor man gelernt hat zu stehen,
so wie eine Kiefer im Sturm steht, mit Fülle unten und Leichtigkeit
oben
"
Diese Art finsterer Verbissenheit an jenem Tag war mir nicht fremd. Ich
hatte sie bereits einige Male in meinem Leben gespürt. Im Guten und
im Bösen. Ich wußte, daß ich mich in diesem Zustand äußerst
rücksichtslos verhalten konnte. Rücksichtslos gegen mich selbst
und auch gegen andere. Es war ein interessantes psychisches Phänomen,
allerdings fehlte es mir jetzt an der Kraft um darüber zu sinnieren,
denn mein Körper bereitete sich auf die Kapitulation vor.
"Das reicht", beendete Sun die Übung knapp.
Ich erhob mich zitternd, die Kniegelenke knirschten etwas. Sun betrachtete
mich aufmerksam, während ich die Muskeln in meinen Beinen lockerte.
"Das häufige Üben in Ma Bu, der Reiterstellung, entwickelt
im Krieger eine Stimmung der Unbeugsamkeit", sagte er schließlich.
Ich war mir sicher, daß meine Stimmung an diesem Tag keine Folge
meines Kung Fu Trainings darstellte. Ich hatte es einfach satt, wie üblich
den Idioten zu spielen.
"Setzen wir uns unter die Bäume dort drüben", schlug
Sun vor.
Der kleine Park im Zentrum Berlins an diesem sonnigen Tag: mehrere Kinder
kriechen im Gras herum, reden mit Insekten, etwas entfernt die schwatzenden
Mütter, helles Lachen hier und dort, Passanten auf den Wegen ohne
Eile, türkische Herrengesellschaft beim Boccia, viel Gerede, wenig
Bewegung, falls überhaupt, dann sehr langsam.
"Unterhalten wir uns etwas", begann Sun nachdem wir uns gesetzt
hatten. Er erschien mir jetzt sehr ernst. "Ich habe den Eindruck,
daß du dich in einer Sackgasse befindest", sagte er und sah
mich an.
"Wirklich?" fragte ich. "Wie kommst du darauf?"
"Dein Leben scheint irgendwie ins Stocken geraten zu sein, es geht
nicht vorwärts, du trittst auf der Stelle", erklärte er.
"Wie kommst du darauf?" fragte ich noch einmal.
Natürlich hatte er recht. Ich steckte in einer Krise, jeder der mich
etwas näher kannte, wußte das; man sah es mir an. Keines meiner
beruflichen Projekte lief erfolgreich, die Beziehung zu Helena steuerte
in fataler Schicksalhaftigkeit auf eine Katastrophe zu, ich hatte kaum
einen Cent in der Tasche und ergab mich in meiner Freizeit regelmäßig
einer stilvollen Depression.
"Irgend etwas bereitet dir Kummer", sagte Sun ohne meine Frage
zu beantworten.
"Was auch immer der Grund dafür sein mag", fuhr er fort,
"es ist absolut unsinnig, auf diese Weise zu leben."
"Meister Sun, wenn ich es so leicht ändern könnte, dann
täte ich es wohl!" Ich war empört, Suns Äußerungen
waren in meinen Augen typisch für die Art, wie er die Welt betrachtete
- Vereinfachung als Denkstil.
"Bist du sicher?" fragte er.
"Selbstverständlich bin ich sicher. Meinst du, es bereitet mir
Freude so zu leben? Ohne Hoffnung, daß einmal etwas so laufen könnte,
wie ich es mir wünsche? Ohne Aussicht, daß die Streitereien
mit Helena jemals enden? Ohne
" Ich verstummte.
Eigentlich war es wirklich ein schöner Tag. Insekten summten, helles
Lachen hier und dort
"Ja, ich denke, es bereitet dir Freude, so zu leben." Ich sah
Sun an, sprachlos.
"So zu tun, als wärst du hilflos
", fuhr er fort.
"Das stimmt nicht!" Ich protestierte.
"So zu tun, als wärst du schwach
"
"Aber das ist Unsinn!"
"So zu tun, als wärst du klein
"
"Ich bin klein!" Ich hatte es geschrien. Sun sah mich
an. Er musterte mich.
"Vielleicht hast du recht", sagte er schließlich. "Wie
auch immer. Es ist völlig sinnlos, sich totzustellen."
Ich schwieg.
"Du mußt dir klarmachen, daß der Weg in dein wahres Leben
mit einer Entscheidung beginnt. Es ist vollkommen lächerlich, ohne
Entscheidung leben zu wollen."
"Was meinst du?" fragte ich.
"Ich spreche von der Entscheidung, das Leben angemessen zu würdigen",
antwortete er.
"Angemessen würdigen...", echote ich verdrossen.
"Ja. Nur wenn du dir klarmachst, daß dies die Basis für
alles andere ist, nur dann kannst du überhaupt eine sinnvolle Verbindung
zu deinem Tun herstellen."
"Shifu, wie kann ich ein Leben angemessen würdigen, das ich
satt habe?" Ich sprach ihn meist mit dem Titel Shifu an, was
in der chinesischen Tradition der Kampfkünste Lehrer oder
Meister bedeutet. Allerdings äußerte er mir gegenüber,
daß er in unserer Beziehung keinen Wert auf Förmlichkeiten
dieser Art legte, obwohl er sie bei anderen Schülern strikt einforderte.
Er ermunterte mich, ihn im Einzelgespräch einfach Sun zu nennen,
was mir jedoch stets ein wenig zu vertraulich erschien.
"Das ist der springende Punkt, nicht wahr? Es geht nicht um das Leben,
das du im Moment führst, sondern um das Leben, das du führen
könntest." Sun betrachtete mich, offenkundig erwartete er in
meinem Gesicht ein Zeichen keimender Erkenntnis.
"Nenne es Respekt vor dem Potential", schlug er vor.
"Ich schätze, es ist eben gerade das Charakteristikum einer
seelischen Krise, daß man den Glauben an dieses Potential verloren
hat", erklärte ich.
"Du sollst ja gar nicht daran glauben müssen, Glaube ist nicht
notwendig. Das Potential, die Möglichkeit, aus dem falschen Leben
in das richtige zu wechseln, diese Chance besteht immer", antwortete
er.
"Das hört sich so theoretisch wirklich gut an, Shifu Sun, aber
ich sehe es etwas anders."
"Natürlich tust du das. Du hast den Kontakt zu deinem Zentrum
verloren", sagte er in einem Ton, als gäbe es in dieser Sache
keinen Zweifel.
"Verliert ein Mensch den Mittelpunkt", erläuterte er, "dann
stört dies seinen Kontakt zur Welt. Ein Mensch ohne Zentrum steht
nicht einmal in Kontakt mit den eigenen Gedanken und Gefühlen."
"Aha, und du meinst, das ist mein Problem?" fragte ich.
"Es ist ein Problem von mehreren, aber möglicherweise hängen
die anderen ebenfalls mit dem Fehlen deines Zentrums zusammen", antwortete
er nach kurzem Überlegen.
"So!" Ich schnaufte. Es regte mich stets auf, wenn Sun meine
Psyche analysierte, obwohl seine Äußerungen häufig zutreffend
erschienen.
"Ma Bu hilft dir bei der Suche nach deinem Zentrum", sagte Sun.
"Ach wirklich?" Das war ironisch gemeint, aber Sun tat, als
hätte er den spöttischen Unterton nicht gehört.
"Ja, aus diesem Grunde erklärte ich dir ja auch, daß das
Stehen in Ma Bu im Krieger die Stimmung der Unbeugsamkeit entwickelt.
Das Zentrum, das Empfinden der eigenen Mitte, das Erspüren der Quelle,
aus der die Kraft strömt - das ist es, was dem Krieger diese Unbeugsamkeit
verleiht." Er sah mich an, als könne ich gar nicht anders, als
ihm augenblicklich zuzustimmen.
"Ich verstehe gar nichts von dem, was du sagst, Shifu. Wie soll denn
eine Körperhaltung eine bestimmte psychische Stimmung bewirken?"
Meine Skepsis war allerdings gespielt, denn ich hatte in mehreren Artikeln
und psychologischen Fachbeiträgen zur Feldenkrais-Methode vom somato-psychischen
Kopplungseffekt gelesen. Ich wollte vielleicht einfach nur hören,
wie Sun diesen Zusammenhang begründen würde.
"Du lieber Himmel, jedes Kind weiß das. Du hast nicht viel
davon mitbekommen, wie das Leben funktioniert!" Er lachte mich aus.
Dann sah er mich an und erklärte:
"Wenn du die Stellung des Reiters einnimmst, die übrigens auch
Eiserner Reiter genannt wird, dann sinkt dein Schwerpunkt automatisch
nach unten. Du kannst unmöglich korrekt in Ma Bu stehen und dabei
einen hohen Schwerpunkt haben." Er schaute mich an und mir war, als
fordere er mich zum Nicken auf, um zu bestätigen, daß ich seine
Worte verstanden hatte. Ich nickte.
"Wenn nun aber dein Schwerpunkt nach unten sinkt", fuhr Sun
fort, "dann nähert er sich dem Zentrum deines Körpers,
das wie du weißt ungefähr in der Höhe deines Bauchnabels
liegt. Durch die Tiefe der Stellung wird dein Zentrum fühlbar."
Ich sah ihn an und dachte über seine Worte nach.
"Die Verbindung von Körperschwerpunkt und Zentrum bewirkt, daß
du dich fühlst, wie ein Fels in der Brandung des Meeres. Du wurzelst
im Boden, stehst ganz und gar stabil, unverrückbar, wenn du willst.
Jemand der so steht, jemand der sich wie ein Fels in der Brandung fühlt,
der entwickelt automatisch eine Stimmung der Unbeugsamkeit. Das müßte
dir doch eigentlich einleuchten."
"Also gut, von mir aus. Was hat nun aber mein sogenanntes Zentrum
mit meiner Lebenssituation zu tun?" fragte ich.
"Das Gefühl für das eigene Zentrum bewirkt, daß sich
der Mensch im Einklang mit seinen Kräften, Empfindungen und Gedanken
befindet", antwortete Sun. "Er lebt aus seiner Mitte heraus,
und deshalb besitzen seine Handlungen Kraft. Du hingegen lebst nicht aus
deiner Mitte heraus. Deine Handlungen wirken wankelmütig und energielos."
"Was sollte ich also deiner Meinung nach tun, Sun?"
Der Verlauf des Gesprächs deprimierte mich. Sun sah mich mit einem
langen, durchdringenden Blick an. Er schien nach den richtigen Worten
zu suchen. Ich war mir in diesem Augenblick sicher, daß er sich
alle Mühe gab, mir zu helfen. Schließlich sagte er:
"Suche dein Zentrum, Enrique. Speichere das Gefühl auf, das
du beim Üben in Ma Bu erfährst. Ich meine das Gefühl, stabil,
fest und sicher in der Welt zu stehen. Und dann suche nach diesem Gefühl
in den Handlungen des Alltags. Dazu ist es zunächst notwendig, langsamer
als gewöhnlich zu handeln. Laß dir Zeit, finde deine Mitte.
Das ist alles, was man dazu sagen kann."
Kapitel
II
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