Die Sechsunddreißig Strategeme
die Kunst der List im Sanshiliu Ji Miben
Bingfa,
ein Artikel von T.Schlaméus
Einführung
Im christlichen Abendland zählt man die List nicht gerade zu den
Tugenden des edlen Menschen. Nicht selten hört man hier die tendenziöse
Phrase, daß die List ein Charakterzug der Orientalen sei. Untersucht
man allerdings, wie häufig Tricks, Finten, Schlichen und Täuschungen
tatsächlich im Okzident angewendet wurden und werden, so kann behaupten,
daß die Anwendung von Listen, mag sie im westlichen Denken auch
keinen guten Ruf besitzen, ein auffälliges Phänomen innerhalb
der europäischen Kulturgeschichte darstellt.
In der östlichen Geisteskultur kennt man sogar einen Listenkatalog.
Sei es, daß es hin und wieder legitim erscheint, eine List anzuwenden,
um Probleme auf unkonventionelle Weise zu lösen, sei es, daß
es wichtig erscheint, die Möglichkeiten listigen Verhaltens zu kennen,
um sich selbst zu schützen - die chinesische Sammlung der sechsunddreißig
Strategeme bietet sich dem interessierten Leser an, die Kunst der List
eingehend zu studieren, denn sie umfaßt viele Klassen und Varianten
der List in übersichtlicher Form.
Schriftzeichen Sanshiliu Ji Miben Bingfa, in der Übersetzung
"36 Strategeme des Buches der Geheimen Kriegskunst"
Der Autor des aus der Ming-Zeit stammenden
Werks Sanshiliu Ji Miben Bingfa ist unbekannt. Jedes Strategem
ist in eine einprägsame Kurzform gefaßt worden, was dazu führte,
daß viele dieser Strategeme in China geradezu Sprichwortcharakter
angenommen haben. Die Struktur der chinesischen Sprache erschwert die
präzise Formulierung abstrakter Inhalte, aus diesem Grunde wird in
der chinesischen Kultur häufig mit bildhaften Gleichnissen gearbeitet.
Schriftzeichen Zhi, in der Übersetzung bedeutet
es sowohl "Weisheit" als auch "List"
Solche Analogien stehen dann vielfältiger
Interpretation offen, und so ist es nicht verwunderlich, daß die
Strategeme von verschiedenen Autoren sehr unterschiedlich gedeutet werden.
In diesem Sinne ist die Auseinandersetzung mit dem Sanshiliu Ji Miben
Bingfa auch immer ein Reflektieren über die Möglichkeiten
der Kunst der List.
Um Spaß und Erkenntniszuwachs bei der Lektüre des Sanshiliu
Ji Miben Bingfa zu garantieren, schlage ich dem Leser eine persönliche
Studie der empfohlenen Strategeme vor. Im Zuge dieser Analyse sollten
wir uns einerseits fragen, ob die Sammlung als systematisch gelten
darf - stellt jedes Strategem tatsächlich eine eigene Klasse von
Listen dar, die sich deutlich von anderen unterscheiden läßt?
Und zweitens sollten wir fragen, ob die Sammlung vollständig
ist - können wir jede in der Praxis denkbare List einem der sechsunddreißig
Strategeme zuordnen?
Um die Ideen des Sanshiliu Ji Miben Bingfa zu veranschaulichen,
habe ich in der griechischen Mythologie nach Listen gesucht, die den aufgeführten
Strategemen entsprechen. Ich hoffe, daß die Einordnung dieser von
abendländischen Helden und Antihelden angewandten Listen in die chinesische
Sammlung des Sanshiliu Ji Miben Bingfa als Hinweis auf dessen universelle
Gültigkeit überzeugen kann. Es kann nicht verwundern, daß
in diesem Zusammenhang der Name des Odysseus mehr als einmal fällt,
gilt er doch als der listigste aller Griechen.
Wie immer ein Hinweis zu den abgebildeten Schriftzeichen: In den fünfziger
Jahren des letzten Jahrhunderts hat die chinesische Regierung im Rahmen
einer großen Alphabetisierungskampagne viele traditionelle Zeichen
vereinfacht, insbesondere sehr komplexe Zeichen wurden durch reduzierte
Varianten ersetzt. Diese sogenannten Kurzzeichen Jiantizi werden
in der Volksrepublik, Singapur und Malaysia benutzt, während die
alten Langzeichen Fantizi von Taiwan und Hongkong verwendet werden.
In den Illustrationen dieses Artikels werden Kurzzeichen verwendet.
Sanshiliu Ji Miben Bingfa - Die 36 Strategeme
des Buches der Geheimen Kriegskunst
1. Strategem - Den Kaiser täuschend das Meer überqueren
Den Hintergrund dieses Strategems bildet eine quasihistorische Geschichte,
nach der Tang-Kaiser Tai Zong (626-649) nur durch eine List bewogen werden
kann, mit seiner Armee über das Meer zu setzen, um das Koguryo-Reich
anzugreifen. Als der Kaiser nämlich am Ufer des Meeres steht, plagen
ihn Zweifel hinsichtlich des geplanten Waffengangs. Er zögert, die
Mission zu vollenden.
Seine listigen Offziere laden den Kaiser zu einem am Meer wohnenden wohlhabenden
Bauern ein. Es wird angedeutet, der Bauer könnte dem Kaiser Proviant
für seine Truppen liefern. Tatsächlich hatte man ein Schiff
so umgebaut, daß es wie ein Haus am Strand aussah, und so war es
möglich, den Kaiser auf das Meer zu locken.

Man Tian Guo Hai - Den Kaiser täuschend das Meer überqueren
Während sich Tai Zong in das Gespräch
mit dem reichen Bauern vertieft, beginnen plötzlich die Balken unter
seinen Füßen zu schwanken. Der Kaiser bemerkt erst jetzt, daß
er auf ein Schiff gelockt wurde und seine ganze Flotte bereits in See
gestochen ist. Er wird gewissermaßen vor vollendete Tatsachen gestellt,
und dies beflügelt seinen Kampfeswillen. Der Kaiser führt seine
Truppen nun vertrauensvoll in die Schlacht...
Es ist nicht ganz einfach, den abstrakten Kern dieses Strategems zu erfassen.
Mit Sicherheit handelt es sich zunächst einmal um ein Manöver,
das eine Fassade der Normalität errichtet, um die Zielperson dann
zu Handlungen zu bewegen, die sie unter anderen Umständen verweigert
hätte.
Die von der Zielperson unter Annahme falscher Tatsachen ausgeführten
Handlungen schaffen eine Realität, die für sie selbst in gewissem
Sinne verbindlich wird. Ein weiteres Detail der Taktik besteht darin,
daß die Zielperson einer Verlockung ausgesetzt wird, die Verlockung
gewährleistet den Erfolg des gesamten Plans überhaupt. Zusammengefaßt:
Eine Kulisse verschleiert die Realität und eine Verlockung veranlaßt
die Zielperson zu Handlungen, deren Konsequenzen sie sich nicht entziehen
kann.
In der griechischen Mythologie wird diese List in meisterhafter Weise
von Odysseus angewendet: Nach zwanzig Jahren des Kriegführens und
Umherirrens ((siehe Ilias und Odyssee) gelangt er endlich
wieder nach Ithaka. Doch zu seinem Entsetzen muß er erfahren, daß
sich eine Bande "frecher Frevler" in seinem Hause breitgemacht
hat, Adlige anderer Fürstenhäuser Griechenlands, die seine Besitztümer
verprassen und um seine geliebte Gattin Penelope freien.
Er plant, diesem schändlichen Treiben ein blutiges Ende zu bereiten,
doch um seinen Plan zu verwirklichen, muß er zunächst die Lage
sondieren, herausfinden, mit welchen Gegnern er es zu tun hat. So nutzt
er das Täuschungsstrategem: Er betritt sein Haus in völliger
Verwandlung - ungewaschen, in Lumpen gekleidet und ingesamt jämmerlich
anzuschauen.
Als Bettler getarnt, wohnt er den Gelagen der Freier bei, inszeniert einen
Wettkampf und bereitet schließlich äußerst listig seine
blutige Rache vor. Dies alles gelingt ihm nur, weil seine Gegner sich
an Aktivitäten beteiligen, die ihnen "normal" erscheinen
- hätten sie gewußt, daß sich Odysseus unter ihnen befindet,
dann wären sie aus Furcht vor seiner Rache geflüchtet...
2. Strategem - Wei belagern, um Zhao zu retten
Als historischen Hintergrund dieses Strategems vermutet man eine militärische
Auseinandersetzung zwischen den Staaten Wei, Zhao und Qi
im Jahre 354 v.Chr. Der Geschichtsschreiber Sima Qian gibt an,
daß der Staat Wei den Staat Zhao angriff und dessen Hauptstadt belagerte.
Zhao bat den Staat Qi um Hilfe. Die Armee von Qi griff nun die Hauptstadt
des Reiches Wei an, zwang die Wei-Armee zur Aufgabe der Belagerung der
Zhao-Hauptstadt, um der eigenen Hauptstadt zu Hilfe zu kommen. Es wird
berichtet, daß die Wei-Armee beim Rückmarsch von der Qi-Armee
in einen Hinterhalt gelockt und vernichtet wurde.
Wei Wei Jiu Zhao - Wei belagern, um Zhao zu retten
Es geht bei diesem Strategem also um die indirekte
Bezwingung eines Gegners durch Bedrohung einer ungeschützten Stelle
seiner Verteidigung. Im weitesten Sinne bedeutet dies jede Vorgehensweise,
die mit dem Auskundschaften und Ausnutzen von Schwächen in der physischen
oder psychischen Struktur des Gegners zusammenhängt.
Wir kennen eine solche Strategie aus der griechischen Mythologie, so beispielsweise
im Falle der Geiselnahme des Polydoros, die in der Sage des Trojanischen
Krieges beschrieben wird: Als die Griechen bemerken, daß der Kampf
gegen die stark befestigte Stadt Troja ein äußerst schwieriges
und langwieriges Unternehmen zu werden droht, versuchen sie das Problem
auf listige Weise zu lösen.
Ursprünglich ging es den Griechen im Kampf gegen Troja ja einzig
um die Rückeroberung der schönen Helena, die der Trojaner Paris
aus Griechenland entführt hatte. Als dem mächtigen griechischen
Helden Ajax im Umfeld der Kämpfe ein Sohn des Königs von Troja
in die Hände fällt, sehen die Griechen ihr Chance gekommen.
Sie bieten Priamos, dem König von Troja, die Auslieferung seines
Sohnes Polydoros an. Im Gegenzug soll Troja die schöne Helena freigeben.
(Helena allerdings will gar nicht zurück, denn sie scheint sich bei
Paris sehr wohl zu fühlen - doch das ist eine andere Geschichte.)
Die Trojaner weigern sich, Helena auszuliefern, und so schlägt die
List in diesem Falle fehl.
Die Griechen zögern nicht, sie steinigen Polydoros vor den Mauern
Trojas unter den Augen seines Vaters Priamos. Es ist ein schrecklicher,
langsamer Tod, den Odysseus und seine Krieger dem Jüngling bereiten.
Immerhin dürfen die Trojaner den zerfetzten Leichnam bergen, um das
Bestattungsritual durchzuführen.
3. Strategem - Mit dem Messer eines anderen töten
Die grundsätzliche Idee dieses Strategems ist nicht sonderlich schwer
zu verstehen. Es geht darum, jemanden auszuschalten, ohne sich direkt
daran zu beteiligen, mehr noch - man tötet, aber die Tat wird einem
anderen zur Last gelegt. So gesehen kann sich die List entweder primär
gegen das Mordopfer richten oder aber primär gegen den angeblich
Schuldigen (also den "Besitzer des Messers") oder natürlich
drittens gegen beide.
Es gibt jedoch auch eine vierte Variante, die vielleicht häufigste:
Man beauftragt jemand anderen mit der Tötung des Opfers, weil man
selbst dazu ganz einfach nicht in der Lage ist. Auch in diesem Falle tötet
man "mit dem Messer eines anderen."
Jie Dao Sha Ren - Mit dem Messer eines anderen töten
Einen solcher Fall findet sich in den griechischen
Sagen: Elektra will sich an ihrer Mutter Klytämnestra und dem Stiefvater
Ägisth rächen, die gemeinsam ihren Vater Agamemnon umgebracht
haben. Da sie allein zu dieser Tat nicht in der Lage ist, lebt sie lange
Zeit in trostloser Stimmung am Hofe der Mutter, trauert um ihren Vater
und ihren Bruder Orestes, der vermißt wird.
Als Orestes eines Tages endlich auftaucht, sieht sie ihre Gelegenheit
zur Rache gekommen. Elektra bittet Orestes um Hilfe, und dieser steht
ihr bei, denn auch er sinnt auf Rache. Er erschlägt seine Mutter
Klytämnestra und ihren Gatten Ägisth. Elektra, die ihn zu dieser
Bluttat aufgefordert hat, tötet auf diese Weise "mit dem Messer
eines anderen".
4. Strategem - Ausgeruht den erschöpften Feind erwarten
Im weitesten Sinne geht es hier darum, einen Mangel an Energie beim Gegner
auszunutzen, d.h. anzugreifen, wenn der Feind erschöpft und schwach
ist. Selbstverständlich kann es daher auch als Anwendung dieses Strategems
gelten, wenn man Maßnahmen ergreift, die den Gegner zwingen, seine
Kräfte zu erschöpfen, um ihn dann, in einem Zustand der Schwäche
anzugreifen.

Yi Yi Dai Lao - Ausgeruht den erschöpften Feind erwarten
Im Kampf um Troja nutzt König Kyknos
dieses Strategem, um dem Heer der Griechen schwere Verluste zuzufügen.
Kyknos ist mit den Trojanern verbündet und erwartet die vom ersten
Kampfe vor Troja heimkehrenden Griechen in einem Hinterhalt bei den griechischen
Lagerstätten. Obwohl sein Überfall den Gegner nicht gänzlich
überwältigt, gelingt es Kyknos allerdings unter den Griechen
ein furchtbares Blutbad anzurichten, da diese bereits geschwächt
vom Kampfe sind und von dem Angriff überrascht werden.
5. Strategem - Eine Feuersbrunst für einen Raub ausnützen
Die Feuersbrunst steht in dieser Listenformel für eine Notlage. Es
sind also die Notlagen des Gegners, die sich dem Listigen anbieten, um
daraus Nutzen zu ziehen. Der große Stratege Sun Zi schreibt:
"Wenn sich der Feind in Unordnung befindet, dann kann man sich seiner
bemächtigen." Die Formel läßt sich allerdings nicht
nur auf den Umgang mit Feinden anwenden. Grundsätzlich gilt, daß
sich dem Listigen immer dort, wo eine Krise herrscht, wo eine Notlage
Menschen in die Knie zwingt, im Guten wie im Bösen beträchtliche
Chancen eröffnen...
Chen Huo Da Jie - Eine Feuersbrunst für
einen Raub ausnützen
So sehen wir mit einigem Erstaunen, wie der
edle Perseus die Notlage von König Kepheus und seiner Tochter ausnutzt,
um sich ein Eheweib zu angeln: Perseus, ausgestattet mit magischen Flügeln,
erblickt während seiner Reise durch Äthiopien die an eine Klippe
geschmiedete und zur Opferung vorbereitete Jungfrau Andromeda, Tochter
des Kepheus, der dem schrecklichen Schauspiel beiwohnt.
Als Perseus erfährt, daß Andromeda einem riesigen Hai zum Fraße
vorgeworfen werden soll, um den Meeresgott milde zu stimmen, verhandelt
er zügig die Bedingungen seines Beistandes. "Ich bin Perseus,
Sprößling des Zeus und der Danae, ich habe die Gorgo besiegt,
und wunderbare Flügel tragen mich durch die Luft. Selbst wenn die
Jungfrau frei wäre und zu wählen hätte, wäre ich kein
verächtlicher Eidam. Jetzt werbe ich um sie mit dem Erbieten, sie
zu retten. Nehmt ihr meine Bedingungen an?"
Der König Kepheus willigt ein, wer hätte in dieser Lage gezögert?
Perseus nutzt seine magischen Waffen und bringt das Untier zur Strecke.
Auf diese Weise gewinnt er die herrliche Andromeda.
6. Strategem - Im Osten lärmen, im Westen angreifen
Nicht immer empfiehlt es sich, den Gegner frontal anzugreifen. Häufig
ist ein Ablenkungsmanöver die geeignete Methode, um den wirklichen
Angriff für gewisse Zeit zu verschleiern. Jede Vorgehensweise, die
hilft, die Aufmerksamkeit von der eigentlichen Schlüsselaktion fortzulenken,
kann hier als List genutzt werden.
Sheng Dong Ji Xi - Im Osten lärmen, im Westen angreifen
Während des Trojanischen Krieges engagieren
sich auch die Götter für die eine oder andere Seite - so unterstützt
der Göttervater Zeus die Trojaner, seine Gattin Hera hingegen nutzt
ihre Macht, um den Griechen zu helfen. Dabei muß sie allerdings
äußerst vorsichtig vorgehen, denn Zeus hat allen Göttern
die Einmischung in den Kampf bei schwerer Strafe verboten. Als die Trojaner
der gegnerischen Armee in einer heftigen Schlacht große Verluste
zufügen und die Griechen bereits ihrem Untergang entgegensehen, wählt
Hera eine List, um ihren Schützlingen beizustehen:
Sie leiht sich von Aphrodite den Zaubergürtel der Liebe und begibt
sich auf den Gipfel des Ida, wo Zeus thront. Zeus ist von den Reizen seiner
Gattin so fasziniert, daß er den Kampf der Trojaner gegen die Griechen
für kurze Zeit vergißt. Auf diese Chance hatte Hera gehofft.
Sie läßt Poseidon, dem Bruder des Zeus und Beschützer
der Griechen, ein Zeichen übersenden.
Als dieser das vereinbarte Signal empfängt, weiß er, daß
die Augen des Zeus nicht über dem Kampf wachen und stürzt sich
ins Schlachtgetümmel, wo er den Verlauf des Kampfes zugunsten der
Griechen beeinflußt.
7. Strategem - Aus einem Nichts etwas erzeugen
Die Idee dieses Strategems besteht in der Kreation einer Pseudorealität,
die im Geist des Gegners eine falsche Vorstellung erzeugt. Unser Ziel
ist es hier, den Gegner zu veranlassen, etwas zu tun, was uns nutzt, bzw.
etwas zu unterlassen, was uns schaden könnte. In jedem Falle handelt
es sich beim "Erzeugen aus dem Nichts" um eine Fiktion, um das
Erschaffen von etwas, das in Wahrheit nicht existiert.
Wu Zhong Sheng You - Aus einem Nichts etwas erzeugen
Als im Sturme Trojas sich Telamon erdreistet,
die feindliche Stadt vor dem Helden Herakles zu betreten, erwacht die
schwarze Eifersucht in diesem, denn noch nie sah sich der Held in Tapferkeit
von einem anderen übertroffen. Ein böser Gedanke erwacht in
Herakles, er hebt das Schwert und ist im Begriff, den vor ihm schreitenden
Telamon niederzuhauen.
Doch dieser blickt sich um und errät das Vorhaben des Herakles. Er
wendet listig das Strategem "Aus einem Nichts etwas erzeugen"
an, bückt sich und liest die nächst herumliegenden Steine auf.
Herakles fragt ihn, was er denn tue. Darauf antwortet Telamon: "Ich
baue Herakles, dem Sieger, einen Altar!" Das beschwichtigt den eifersüchtigen
Zorn des Helden und rettet Telamon das Leben.
8. Strategem - Sichtbar die Holzstege instandsetzen, insgeheim nach Chencang
marschieren
Diese List wird auch als Strategem der verschleierten Marschrichtung bezeichnet.
Es geht dabei um eine Täuschung, die den Gegner über eigene
Bewegungen im Ungewissen läßt. So kann ein Rückzug vorgetäuscht
werden, obwohl man in Wirklichkeit den Angriff plant. Es ist außerdem
möglich, zu suggerieren, daß man eine bestimmte Marschroute
nutzen möchte (dort, wo die Holzstege repariert werden), obwohl ein
ganz anderer Weg geplant ist.
An Du Chencang - Sichtbar die Holzstege instandsetzen,
insgeheim nach Chencang marschieren
Die griechische Mythologie kennt diese List
aus dem Trojanischen Krieg. Sie bildet dort den Auftakt für den Einsatz
des berühmten Hölzernen Pferdes. Eines Morgens stellen die Trojaner
nämlich fest, daß die Griechen sich zurückgezogen haben.
An der Stelle, wo das griechische Heer während des Krieges lagerte,
findet sich jetzt lediglich ein großes hölzernes Pferd, das
die Trojaner für ein Weihegeschenk der Griechen halten. Da die Trojaner
von der Flucht der Griechen überzeugt sind, schöpfen sie auch
keinen Verdacht gegen das Pferd. Sie bringen es in ihre Stadt, wo sich
etwas später der wirkliche Zweck des Pferdes auf schreckliche Weise
offenbart.
9. Strategem - Die Feuersbrunst am gegenüberliegenden Ufer beobachten
Hier geht es darum, eine Krisensituation beim Gegner lediglich zu beobachten,
nicht einzugeifen, weder um Hilfe zu leisten, noch um die Notlage auszunutzen.
Die hinter diesem Strategem stehende Idee basiert auf dem Gedanken, daß
es manchmal klüger ist, die Dinge einige Zeit reifen zu lassen, um
klarer beurteilen zu können, welche Handlungen notwendig sind.
Man wartet ab, bis sich die Situation den eigenen Interessen entsprechend
günstig entwickelt oder zumindest für eine genaue Beurteilung
geklärt hat und greift dann erst ein. Voreiliges Handeln könnte
den Erfolg verderben, deshalb ist es häufig weise, sich zurückzuhalten.
Ge An Guan Huo - Die Feuersbrunst
am gegenüberliegenden Ufer beobachten
In der griechischen Sage um das tragische
Schicksal von Medea und Jason, dem Argonauten, findet sich eine Stelle,
die als Anwendung des Strategems "Die Feuersbrunst am gegenüberliegenden
Ufer beobachten" gedeutet werden könnte.
Medea hatte große Schuld auf sich geladen: Sie raubte für Jason,
in den sie verliebt war, das Goldene Vliess und stellte sich damit gegen
ihren Vater. Sie war an der Ermordung und Zerstückelung ihres Bruders
beteiligt, als die Argonauten vor der Armee des Aietes flüchteten.
Doch diese Taten sollten nicht ungesühnt bleiben.
Nach zehnjähriger Ehe, wandte Jason sich einer anderen Frau, nämlich
Glauke, Tochter des Korintherkönigs Kreon, zu. Er heiratete Glauke
und bedrängte Medea, ihn freiwillig zu verlassen. Kreon, der neue
Schwiegervater des Jason, beobachtete die verzweifelte Medea und schickte
sich an, sie aus dem Lande zu verbannen. Doch dann schien es ihm klüger,
damit zu warten.
Wir können darüber rätseln, welche Gründe Kreon dafür
hatte. Sicher ist, daß er Medea lieber tot als lebendig gesehen
hätte. So scheint es nicht ausgeschlossen, daß er sich einen
Vorteil davon erhoffte, Medea vorerst nicht aus dem Land zu jagen.
Doch wie auch immer der Plan des Kreon ausgesehen haben mochte, die List
des Abwartens stellte sich in diesem Fall als schwerer Fehler heraus.
Medea nutzte die wenige verbliebene Zeit, um Glauke mit einem vergifteten
Gewand listig zu töten und schließlich auch Kreon, sogar ihre
eigenen Kinder, die sie mit Jason gezeugt hatte. Jason nahm sich aus Verzweiflung
das Leben.
10. Strategem - Hinter dem Lächeln einen Dolch verbergen
Der Kerngehalt dieses Strategems ist leicht zu erfassen, es geht darum
einen Gegner durch Freundlichkeit und schöne Worte einzulullen, seine
Wachsamkeit zu schwächen, indem man sich bei ihm einschmeichelt und
sein Vertrauen gewinnt. Hat man den Gegner soweit, versetzt man ihm aus
nächster Nähe den tödlichen Stoß.
Xiao Li Cang Dao - Hinter dem Lächeln einen Dolch verbergen
Diese Taktik wendet Hermes an, der von Zeus
den Auftrag erhalten hat, die schöne Io aus der Gefangenschaft des
hundertäugigen Argos zu befreien. Hermes verkleidet sich als Hirte
und begibt sich in die Nähe des Argos, der auf einem Hügel Wache
hält. Der Götterbote spielt auf seiner Syrinx (Flöte aus
Schilfröhren) und wird von Argos, den der überidrische Klang
verzaubert, herbeigerufen.
Die beiden kommen ins Gespräch, und Hermes erwirbt das Vertrauen
des Argos. Der Wächter schlummert schließlich ein. Hermes zieht
ein verborgenes Schwert hervor und schlägt zu... Betrachtet man diese
Taktik, so kann man feststellen, daß sie auf dem Gewinnen des Vertrauens
beruht. Ein Wächter wie Argos würde sich keinesfalls in Gegenwart
eines Fremden zur Ruhe legen, besäße dieser nicht sein vollstes
Vertrauen.
11. Strategem - Der Pflaumenbaum verdorrt anstelle des Pfirsichbaums
Die Basis dieses Strategems besteht in der auch im Abendland weithin bekannten
Taktik des Bauernopfers. Eine Unterteilung verschiedener Varianten dieses
Strategems könnte so aussehen: sich selbst opfern, um andere zu retten
oder den anderen opfern, um sich selbst zu retten oder irgendjemanden
opfern, um einen Dritten zu retten oder ein kleines Opfer zu bringen,
um etwas Wertvolles zu gewinnen. In jedem Falle findet ein Abwägen
statt, und das Ergebnis fällt so aus, daß man das Kleinere
zugunsten des Größeren aufgibt.
Li Dai Tao Jiang - Der Pflaumenbaum verdorrt anstelle des Pfirsichbaums
Im Abendland ist diese Vorgehensweise durch
das Opfern der Iphigenia bekannt. Ihr Vater, König Agamemnon, gerät
kurz vor der Schlacht um Troja in eine schwierige Situation: Seine versammelten
Heere werden durch eine tiefe Windstille daran gehindert, über das
Meer zu setzen und Troja anzugreifen. Die Weissagung des Sehers Kalchas
ist eindeutig: "Wenn Agamemnon seine geliebte Tochter Iphigenia opfert,
wird Fahrtwind kommen und der Zerstörung Trojas kein übernatürliches
Hindernis im Wege stehen."
Agamemnon entscheidet sich schließlich für das geforderte Opfer
- aus seiner Sicht eine zwar bittere, jedoch unumgängliche Wahl,
denn in der Schlacht um Troja steht mehr als ein Menschenleben auf dem
Spiel. (Die Schlacht wurde auch schließlich gewonnen, doch Agamemnon
sollte für das Opfer büßen - seine Frau Klytämnestra
vergab ihm den Kindesmord nicht und brachte ihn nach seiner Rückkehr
vom Feldzug um.)
12. Strategem - Mit leichter Hand das Schaf wegführen
Dieses Strategem beschreibt eine psychische Disposition, die auf den ersten
Blick unscheinbar wirkt, sich bei genauerem Hinsehen jedoch als seltende
Tugend erweist: Es geht um die Fähigkeit, eine sich plötzlich
und unerwartet bietende Chance augenblicklich zu ergreifen und auszunutzen.
Die Fähigkeit schnell, geistesgegenwärtig und präzise zu
handeln, setzt eine geistige Präsenz voraus, die nur wenige Menschen
verwirklicht haben. Es versteht sich von selbst, daß nur ein Mensch,
der seine Umwelt genau und aufmerksam beobachtet, in der Lage sein wird,
plötzliche Gelegenheiten zum Gewinn eines Vorteils auszunutzen.
Shun Shou Qian Yang - Mit leichter Hand das Schaf wegführen
Eine geistreiche Variante der Anwendung dieses
Strategems erblicken wir in der wahrhaft skrupellosen Vorgehensweise zweier
griechischer Helden im Kampf um Troja. Die Rede ist wieder einmal von
Odysseus und von Diomedes. Die beiden Griechen befinden sich auf einer
nächtlichen Erkundungsmission. Ihr Auftrag besteht darin herauszufinden,
ob die trojanischen Krieger, die ihr Nachtlager unweit des griechischen
Heeres aufgeschlagen haben, für den kommenden Tag die Rückkehr
zur Stadt oder erneuten Angriff planen.
Während des Schleichganges bemerkt der stets wachsame Odysseus das
leise Geräusch flinker Schritte, er und Diomedes begeben sich augenblicklich
in Lauerposition und überraschen auf diese Weise einen feindlichen
Späher. Dieser Mann, Dolon genannt, hatte den unglücklichen
Plan, das griechische Heer auszukundschaften, und in grenzenloser Vermessenheit
beabsichtigte er darüber hinaus den Raub von Wagen und Rossen des
mächtigen Achilleus.
Die Geschichte nimmt eine brutale Wendung und ein noch brutaleres Ende:
Nachdem Odysseus und Diomedes den trojansichen Späher überwältigt
haben, verhören sie ihn, nicht ohne ihm die Lüge von möglicher
Schonung aufzutischen und erfahren auf diese Weise von den Schwachpunkten
des trojanischen Lagers. Danach töten sie Dolon, indem sie ihm den
Kopf abschlagen. Sie teilen seine Waffen und seine Rüstung unter
sich auf und begeben sich zum Nachtlager der Trojaner.
Dort finden sie, wie erwartet, einige thrakische Krieger und deren König
Rhesos schlafend vor. Sie töten mindestens ein Dutzend Männer
im Schlafe, unter den Gemeuchelten ist auch Rhesos, der König. Schließlich
rauben die beiden Griechen Rosse und Wagen des Rhesos und verschwinden
nach diesem schändlichen Werk im Schutze der Nacht.
Odysseus zeigt hier, wie schnell er einen Plan ändern kann, wenn
sich die Chance auf den Gewinn eines Vorteils bietet. Eigenartig an dieser
Geschichte ist, daß die Griechen das ursprüngliche Ziel ihrer
Mission sofort aufgaben, als sich ihnen die Chance auf Meuchelmord und
Raub bot. Diese Entscheidung scheint dem allgemeinen Verständnis
nach angemessen gewesen zu sein, denn der erfolgreiche Raubzug wurde bei
der Heimkehr der beiden Helden ins griechische Lager von den anderen Helenen
mit großem Jubel und Beifall bedacht.
13. Strategem - Auf das Gras schlagen, um die Schlangen aufzuscheuchen
Ist ein Gegner zurückhaltend und unergründlich, so kann man
die List der Provokation anwenden, um ihn zu enttarnen oder um herauszufinden,
wie er reagiert. Dabei sind viele Methoden denkbar. Meist fällt eine
Art Warn- oder Schreckschuß, der den Gegner veranlaßt, wertvolle
Informationen preiszugeben.

Da Cao Jing She - Auf das Gras schlagen,
um die Schlangen aufzuscheuchen
Als Thetis, die Mutter des jungen Achilleus,
vom Orakel erfährt, daß ihr Sohn sich eines Tages am Feldzug
gegen Troja beteiligen und dabei den Tod finden wird, steckt sie den Knaben
in Mädchenkleider und gibt ihn in die Obhut des Königs Lykomedes,
wo Achilleus als Jungfrau verkleidet im Kreise der Königstöchter
aufwächst.
Jahre später wird Odysseus geschickt, um Achilleus ausfindig zu machen
und in den Krieg zu holen. Als man Odysseus in einen großen Saal
voller Jungfrauen führt, zwischen denen man auch Achilleus verbirgt,
greift Odysseus zur List "Auf das Gras schlagen, um die Schlangen
aufzuscheuchen". Er läßt Schild und Speer bringen und
dann die Kriegstrompete blasen, so als ob der Feind im Heranrücken
wäre.
Bei diesem Schrecken fliehen alle Frauen aus dem Saal, Achilleus aber
bleibt mutig allein, greift Speer und Schild und offenbart sich auf diese
Weise als künftiger Held.
14. Strategem - Für die Rückkehr der Seele einen Leichnam ausleihen
Hinter dem bizarren Namen dieses Strategems verbirgt sich im Grunde lediglich
die Idee, Dinge in unkonventioneller Weise nützlich einzusetzen.
Die Geschichte, die dem Strategem seinen Namen gab, berichtet von dem
korrupten Beamten Yue Shou, der vor Schreck stirbt, als ihm durch einen
kaiserlichen Abgesandten der Hinrichtungsbefehl überbracht wird.
Der unsterbliche Daoist Lü Dongbin sieht in Yue Shou allerdings einen
wertvollen Menschen, er bittet den Höllenfürsten, ihn auf die
Oberwelt zurückzuschicken, damit er ihn als Schüler aufnehmen
und unterrichten könne. Der Höllenfürst will der Bitte
nachkommen, aber der Leichnam Yue Shous ist bereits verbrannt worden.
Deshalb läßt der Daoist die Seele Yue Shous in den unversehrten
Körper des gerade verstorbenen jungen Schlächters Li fahren
und sagt: "Ich lasse dich jetzt einen Leichnam für die Rückkehr
deiner Seele ausleihen."
Jie Shi Huan Hun - Für die Rückkehr der Seele einen Leichnam
ausleihen
Im engeren Sinne kann man hier von einer Taktik
sprechen, die alten Dingen oder Sachverhalten ein neues Etikett aufprägt.
Im weiteren Sinne, fallen jedoch alle Listen in die Kategorie dieses Strategems,
die nach ungewöhnlichen Nutzungsmöglichkeiten von Dingen suchen,
die eigentlich für einen anderen Zweck bestimmt sind. So ist es eben
nicht der "richtige" Zweck des Leichnams von einer aus dem Totenreich
zurückkehrenden Seele in Besitz genommen zu werden. Aber weil die
Idee funktioniert und kaum andere Optionen bleiben, wendet der Daoist
sie an.
In der griechischen Mythologie verwendet Perseus im Kampf gegen die Gorgo
Medusa einen Gegenstand ebenfalls auf sehr unkonventionelle, listenreiche
Weise. Da der Anblick des Ungeheuers jeden Menschen zu Stein verwandelt,
fängt Perseus das Spiegelbild der Schrecklichen in seinem glänzenden
Schild auf. So gelingt es ihm, den tödlichen Schwerthieb zu führen,
ohne die Medusa direkt anzuschauen...
15. Strategem - Den Tiger vom Berg in die Ebene locken
Hier geht es darum, den Gegner zu veranlassen, seinen Schutz zu vernachlässigen.
So wie man den Tiger eben nicht oben auf dem Berg erlegen kann, weil dies
sein Territorium ist, in dem er jeden Schlupfwinkel kennt, ihn also nach
unten, in die Ebene locken muß, so sollte man auch seinen Gegner
veranlassen, sich zu exponieren.
Im weiteren Sinne umfaßt dies jede List, die den Gegner verleitet,
sich in für ihn ungünstige Situationen zu begeben. Diese Situationen
sind durch taktische Schwierigkeiten des Gegners gekennzeichnet, beispielsweise
fehlender Schutz, mangelnde Mobilität etc.
Diao Hu Li Shan - Den Tiger vom Berg in die Ebene locken
Herakles wendet diese Taktik im Kampf gegen
die übermächtige Armee der Minyer an. Er lockt seine Feinde
in eine enge Felsschlucht, in dieser beengten Situation ist die Größe
ihrer Heeresmacht den Minyern nicht von Nutzen. Herakles siegt über
seine Feinde, weil er es verstanden hat, "den Tiger vom Berg in die
Ebene zu locken".
16. Strategem - Will man etwas fangen, muß man es zunächst
loslassen
Die eigentliche Idee hinter diesem Strategem ist dunkel. Man hat sie in
verschiedenen Varianten gedeutet. In Anlehnung an den großen Strategen
Sunzi kann man das Strategem in dem Sinne interpretieren, daß
ein Feind, der in eine ausweglose Lage manövriert wurde, möglicherweise
extreme Selbsterhaltungskräfte mobilisiert.
Aus diesem Grunde rät Sunzi, dem Gegner stets - zumindest
dem Schein nach - eine Rückzugsmöglichkeit zu bieten. Das Ziel
dieser Methode besteht darin, den Feind von unkontrollierbaren Ausbrüchen
abzuhalten, um ihn dosiert "kleinzuhacken".
Yu Qin Gu Zong - Will man etwas fangen,
muß man es zunächst loslassen
Wir haben bereits auf ein Beispiel für
die skrupellose Anwendung dieses Prinzips hingewiesen, als die Ermordung
des Dolon durch Odysseus und Diomedes besprochen wurde. Die beiden Griechen
hatten den feindlichen Späher gefangen und wollten ihn verhören.
Dolon fürchtete um sein Leben, doch Odysseus beruhigte ihn mit den
Worten. "Sei getrost, und mach dir keine Todesgedanken, aber sage
uns die Wahrheit..." Nachdem die Helenen den Trojaner verhört
hatten, schlugen sie ihm den Kopf vom Rumpf.
Es darf bezweifelt werden, daß Dolon in vollem Wissen um sein bereits
feststehendes Todesurteil so bereitwillig Auskunft erteilt hätte.
Die beiden Griechen wußten den Trojaner - in aus heutiger Sicht
perfider Weise - zu täuschen, um ihn zum Verrat zu bewegen.
17. Strategem - Einen Backstein hinwerfen, um einen Jadestein zu erlangen
Bei diesem Strategem geht es darum, durch eine unbedeutende Gabe einen
großen Gewinn zu erzielen. Dabei liegt eine Täuschung über
die realen Werte des Gegebenen und des Genommenen in der Natur der Sache,
denn der Plan würde in nur wenigen Fällen aufgehen, wenn die
realen Werte der zu überlistenden Person bekannt wären. Wir
können davon ausgehen, daß sich dem Kerngehalt alle Formen
von Verträgen zuordnen lassen, bei denen eine Partei durch Vorspielung
eines in Wahrheit nicht vorhandenenen bzw. zu geringen Nutzens betrogen
wird.
Pao Zhuan Yin Yu - Einen Backstein hinwerfen,
um einen Jadestein zu erlangen
So beabsichtigt Prometheus, den allmächtigen
Zeus zu betrügen, indem er ihm anbietet, zwischen den ungleichen
Hälften eines getöteten Opferstiers zu wählen. Prometheus
hat listige Vorkehrungen getroffen: Beide Teile sind von Stierhaut überzogen,
der Inhalt ist also unsichtbar, und die äußerlich größere
Hälfte besteht in Wirklichkeit nur aus Knochen, während die
kleinere Hälfte Fleisch, Innerein und Speck enthält.
Prometheus spekuliert darauf, daß Zeus die größere Hälfte
des Opferstiers für die Himmlischen wählt und den Menschen die
kleinere, in Wirklichkeit jedoch wertvollere Hälfte überläßt.
Diese Strategie läßt sich in der Tat beschreiben, als "Hinwerfen
eines Backsteins, um einen Jadestein zu erlangen".
18. Strategem - Will man eine Räuberbande unschädlich machen,
muß man den Anführer fangen
Im Kampf gegen einen Gegner ist es grundsätzlich wichtig, sich auf
das Wesentliche zu konzentrieren, seine Zentralstelle zu erkennen und
diese, wenn möglich, auszuschalten. Folgt man diesem Gedanken, dann
erscheint es logisch, daß der Anführer der gegnerischen Formation
das wichtigste Ziel darstellt.
Qin Zei Qin Wang - Will man eine Räuberbande unschädlich machen,
muß man den Anführer fangen
Nachdem Kyknos, König der Kolonaier,
den vom ersten Kampf vor Troja heimkehrenden Griechen einen Hinterhalt
gelegt und im Überfall schwere Verluste beigefügt hat, wird
er selbst Opfer einer Kriegslist. Der mächtige Achilleus nämlich
sucht im Schlachtengewühl nach dem Anführer der Kolonaier, um
ihn zu töten und damit der feindlichen Heeresmacht den Kopf abzuschlagen.
Als Achilleus Kyknos entdeckt, lenkt er seine Rosse zu ihm hin und schleudert
seinen Speer. Doch Kyknos, ein Sohn des Poseidon, besitzt einen zu Eisen
gehärteten Körper, der Speer prallt ab. Als auch drei weitere
Würfe nichts bewirken, springt Achilleus, schäumend vor Wut,
zu Kyknos herüber und schlägt zunächst mit dem Schwerte
und als dies ebenfalls keine Wirkung zeigt mit seinem schweren Schild
auf Kyknos ein.
Kyknos wird vom Schild des Achilleus mehrfach an der Schläfe getroffen
und beginnt zu taumeln. Achilleus packt ihn, stößt ihn zu Boden,
stemmt sich mit Schild und Knien auf die Brust des Liegenden und erwürgt
Kyknos schließlich mit seinem eigenen Helmband. Als die Kolonaier
sehen, daß ihr Anführer getötet wurde, verläßt
sie der Mut, und sie ergreifen die Flucht.
19. Strategem - Unter dem Kessel Brennholz wegziehen
Hier geht es im grundsätzlichen Sinne um eine Problemlösungstaktik,
die den Ursachen der Schwierigkeiten zu Leibe rückt, sozusagen die
Wurzel des Übels angreift. Wollen wir das Handeln des Gegner unterbinden,
so müssen wir uns fragen, was diesem Handeln Energie verleiht, wo
ist die Kraftquelle, die das Tun des Gegners speist? Ist es uns möglich,
unserem Gegner "unter dem Kessel das Brennholz wegzuziehen",
dann wird ihn das zur Aufgabe zwingen.
Fu Di Chou Xin - Unter dem Kessel Brennholz wegziehen
Herakles wendet diese Taktik im Kampf gegen
die neunköpfige Hydra, eine mörderische Riesenschlange, an.
Herakles sucht zunächst den Sieg über die Hydra zu erringen,
indem er der Reihe nach jeden ihrer Köpfe mit seiner schweren Keule
einschlägt. Das Problem dabei ist jedoch folgendes: Immer wenn ein
Kopf der Hydra zerschmettert zu Boden fällt, erwachsen dem Ungetüm
zwei neue Häupter.
So ruft Herakles seinen Gefährten Jolaos herbei und befiehlt ihm,
die blutigen Stümpfe der Hydrahälse, aus denen die neuen Köpfe
wachsen, mit einer Fackel stets sofort auszubrennen. Und da nun keine
neuen Häupter nachwachsen können, ist Herakles in der Lage,
alle Köpfe der Hydra zu zertrümmern und das Untier auf diese
Weise zu bezwingen.
20. Strategem - Das Wasser trüben, um die Fische zu fangen
Fische, die ihrer klaren Sicht beraubt im Trüben schwimmen, lassen
sich leicht packen. Ein Feind, der die Orientierung verloren hat, ist
leicht zu überwältigen. Dieses Strategem zielt darauf ab, Verwirrung
und Chaos zu stiften, um daraus Vorteil zu ziehen.

Hun Shui Mo Yu - Das Wasser trüben, um die Fische zu fangen
Als Musterbeispiel für die Anwendung
dieses Strategems muß die Überlistung des Zyklopen Polyphemos
durch den Troja-Zerstörer Odysseus gelten. Der griechische Held war
nach dem Fall Trojas während der Heimfahrt in die Gefangenschaft
des menschenfressenden Polyphemos geraten.
Nachdem dieser in seiner Höhle mehrere Kameraden des Odysseus mit
Haut und Haaren verspeist hatte, entwickelte Odysseus eine List nach dem
Prinzip "Das Wasser trüben, um die Fische zu fangen" und
zwar in doppelter Hinsicht.
Zunächst versetzte er den Zyklopen durch massive Verabreichung von
Wein in einen bewußtseinsgetrübten Dämmerzustand. Dann
rammten er und seine Kameraden einen großen hölzernen, gespitzten
und gehärteten Pflock in das einzige Auge des Ungetüms und nahmen
ihm so vollends die Orientierung.
Als darauf Polyphem, der ein passionierter Schaf- und Ziegenhirte war,
rasend vor Schmerz und Wut seine Tiere aus der Höhle ließ,
vermutlich um anschließend in seiner Behausung reinen Tisch zu machen,
verbargen sich die Helenen angebunden unter den Bäuchen der kräftigen
Widder und gelangten auf diese Weise in die Freiheit.
Die Befreiung gelang also, weil Odysseus es verstand, das "Wasser
zu trüben" und seinen Gegner in die Irre zu führen.
21. Strategem - Die Zikade entschlüpft ihrer goldglänzenden
Hülle
Wir haben es hier mit einem Prinzip zu tun, das häufig während
einer Flucht aber auch als Kontermanöver Anwendung findet und primär
auf den Faktor Ablenkung setzt: Man entzieht sich einem Angriff oder einer
Verfolgung durch den Trick, die Aufmerksamkeit des Gegners auf einen Nebenschauplatz
zu fokussieren. Während der Gegner also auf die "goldglänzende
Hülle" starrt, umgeht man ihn, entweder, um zu flüchten
oder um ihm in den Rücken zu fallen.

Jin Chan Tuo Qiao - Die Zikade entschlüpft ihrer goldglänzenden
Hülle
Ein in seiner Rücksichtslosigkeit erschreckendes
Beispiel für den Einsatz dieses Strategems sehen wir, wenn wir das
Fluchtmanöver der Argonauten aus dem Lande der Kolcher untersuchen:
Medea, Tochter des Kolcher-Königs Aietes, hatte dem Argonauten Jason
geholfen, ihrem Vater das Goldene Fließ zu rauben und befindet sich
nun mit den Argonauten auf der Flucht.
Eine Flotte von Kolcher-Kriegsschiffen nimmt die Verfolgung auf. Sie wird
von Medeas Bruder, Absyrtos, kommandiert. Als die Schiffe des Absyrtos
die Argonauten schließlich stellen, bieten diese den Kolchern einen
Handel an, um blutigen Kampf zu vermeiden.
Die Kolcher stimmen zu, nicht ahnend, daß der vorgeschlagene Handel
lediglich ein Ablenkungsmanöver darstellt. Medea lockt ihren Bruder
nachts zu einem geheimen Treffen, indem sie in einer per geheimen Boten
überstellten Nachricht andeutet, nicht freiwillig bei den Argonauten
sondern vielmehr Jasons Geisel zu sein.
Die Täuschung gelingt. Absyrtos "starrt auf die goldglänzende
Hülle", hält Fiktion für Wahrheit und begibt sich
zu dem geheimen Treffen. Dort wird er freilich von Medea und Jason ermordet.
Anschließend überwältigen die Argonauten die ihres Anführers
beraubten Kolcher. Sie töten ausnahmslos alle Männer des Absyrtos
und setzen ihre Flucht vor den Truppen des Aietes fort.
22. Strategem - Die Türe schließen und den Dieb fangen
Im engeren Sinn kann diese List als ein Manöver verstanden werden,
das darauf abzielt, den Gegner in einem begrenzten Raum einzuschließen,
somit an der Flucht zu hindern, um ihn dann niederzumachen. Dies kann
entweder geschehen, indem man ihn von außerhalb umzingelt oder tatsächlich
in ein Gebäude lockt, dessen Ausgänge versperrt sind.
Guan Men Zhuo Zei - Die Türe schließen und den Dieb fangen
Odysseus wendet dieses Strategem an, um jene
Prasser zu richten, die sich während seiner Abwesenheit im Hause
des Helden festgesetzt haben und seiner Gattin Penelope den Hof machen.
Als alle Freier in der Halle des Hauses versammelt sind, aus der in der
Nacht alle Rüstungen und Waffen entfernt wurden, schließen
die Diener auf Odysseus´Geheiß jede Tür und verriegeln
sie.
Da nun alle Fluchtmöglichkeiten genommen sind, kann sich Odysseus
mit Pfeil, Bogen, Schwert, Helm, Schild und Lanze daran machen, seine
unbewaffneten Gegner niederzumetzeln. Das Morden dauert einige Stunden,
und kein Freier entrinnt der Rache des wutschäumenden Helden.
23. Strategem - Sich mit einem fernen Feind verbünden, um einen nahen
Feind anzugreifen
Bei diesem Strategem geht es darum, sich durch Verbünden mit einem
Feind Vorteile im Kampf mit einem anderen Feind zu sichern. Der "ferne
Feind" ist derjenige, den man durchaus auch später noch effizient
bekämpfen kann. Vom "nahen Feind" hingegen geht eine akute
Bedrohung aus.
Da der "ferne Feind" nicht so gefährlich ist, wie der "nahe
Feind", kann man ein befristetes Bündnis mit ersterem eingehen,
um letzteren zu besiegen. Hat man das erreicht, spricht nichts dagegen,
das Bündnis aufzukündigen und auch den "fernen Feind"
zu unterwerfen.
Yuan Jiao Jin Gong - Sich mit einem fernen Feind verbünden,
um einen nahen Feind anzugreifen
Odysseus, der Listenreiche, wendet dieses
Strategem an, als er sich entschließt, mit seinem Todfeind Palamedes
in einer Gesandtschaft zusammenzuarbeiten, um den trojanischen König,
Priamos, davon zu überzeugen, die von Paris nach Troja verschleppte
Helena herauszurücken.
Odysseus weiß, daß ein grausamer Krieg zwischen Helenen und
Trojanern nur verhindert werden kann, wenn am Hofe des trojanischen Feindes
ein Handel durch Einschüchterung erwirkt wird.
So unterstützt Odysseus den wortgewandten Palamedes im Versuch, den
Trojanern vor Augen zu führen, welche Konsequenzen der Stadt drohen,
wenn man Helena nicht freiläßt.
Wie wir wissen, scheitert dieser Plan. Odysseus fühlt sich bereits
nach der Rückkehr aus Troja nicht mehr verpflichtet, Palamedes zu
schonen. Er intrigiert gegen ihn, es kommt zu einer Gerichtsverhandlung.
Die Listen des Odysseus haben Erfolg: Der unschuldige Palamedes wird wegen
angeblichen Verrats gesteinigt. Odysseus hatte freilich die Beweise gefälscht.
24. Strategem - Einen Weg für einen Angriff gegen Guo ausleihen
Der Name des Strategems leitet sich aus der Idee ab, im Staate Yu einen
Durchmarsch zu erbitten, um dessen Nachbarstaat Guo anzugreifen. Nachdem
Guo besetzt wurde, greift man allerdings auch Yu an.
Allgemein ausgedrückt beinhaltet dieses Strategem das Prinzip, jemanden
zu veranlassen, "sein eigenes Grab zu schaufeln". Durch List
wird erreicht, daß der Gegner dabei mithilft, sich selbst zu vernichten.
Es ist die Taktik, jemanden leutselig darum zu bitten, ein Messer aus
der Küche zu holen, um ihn dann damit niederzustechen.
Jia Tu Fa Guo - Einen Weg für einen Angriff gegen Guo ausleihen
Eine Variante der Anwendung dieses Strategems
findet sich im Plan des Königs Kreon, der sich darum bemüht,
den in der Verbannung befindlichen Ödipus zur Rückkehr nach
Theben zu bewegen. Die Hintergründe der Verbannung sind aus der Ödipussage
wohl bekannt:
Ödipus, Sohn des Thebenkönigs Laios wurde von seinen Eltern
kurz nach seiner Geburt in der Wildnis ausgesetzt, denn ein Orakel prophezeite
seinem Vater, dieser werde durch die Hand seines Sohnes sterben.
Durch glückliche Umstände wird Ödipus allerdings vor dem
Tode gerettet und wächst am Hofe des Königs Polybos auf, nicht
wissend, daß er ein Abkömmling des thebanischen Königshauses
ist. Und so geschieht das Furchtbare: In der Folge seiner Unkenntnis und
einiger zusätzlicher Irrtümer erschlägt er bei einem Handgemenge
seinen wirklichen Vater Laios und heiratet später seine Mutter Jokaste.
Als sich schließlich alles aufklärt, bricht Ödipus unter
der Last seines Frevels zusammen. Er durchbohrt seine Augen und begibt
sich in die Verbannung. Sein skrupelloser Schwager Kreon ergreift die
Chance, und statt dem unglücklichen Ödipus in der Not beizustehen,
übernimmt er den Thron.
Als jedoch eine Prophezeiung bekannt wird, nach der Kreon in Gefahr sei,
solange Ödipus außerhalb seiner Heimat umherirrt, bittet Kreon
seinen Schwager heimzukehren. Seine eigentliche Absicht besteht darin,
Ödipus in einem entlegenden Winkel des thebanischen Königreiches
zu arrestieren.
Die Einladung ist also eigentlich ein Plan, nach dem sich Ödipus
freiwillig ans Messer liefern soll. Ödipus allerdings durchschaut
die List, und mit Hilfe des Helden Theseus kann er den fortgesetzten Angriffen
des Kreon widerstehen. Die List "Einen Weg für einen Angriff
gegen Guo ausleihen" geht in diesem Falle also nicht auf.
25. Strategem - Die Tragbalken stehlen und die Stützposten austauschen
Die Anwendungsmöglichkeiten dieses Strategems sind vielfältig.
Im Grunde geht es darum, eine äußere Fassade stehenzulassen,
während das Innere verändert wird. Das bedeutet also ein Aushöhlen,
ein zunächst nicht erkennbares Umformen zu betreiben. In diese Kategorie
fallen alle Taktiken, die den äußeren Anschein erwecken, die
bisher wirksame Normalität würde nicht verändert, dabei
jedoch das Wesentliche (das Innere) der Situation modifizieren.
Tou Liang Huan Zhou - Die Tragbalken stehlen
und die Stützposten austauschen
Herakles macht von diesem Strategem Gebrauch,
um Prometheus zu befreien, den Zeus durch einen Urteilsspruch an den Kaukasus
kettete. Der Gefangene soll dort an einem Abgrund mindestens dreißigtausend
Jahre hängen, aufrecht, schlaflos, niemals imstande, das müde
Knie zu beugen, gequält von einem Adler, der als täglicher Gast
an seiner Leber frißt. Die Qual des Prometheus soll nicht eher enden,
bis ein Ersatzmann erscheint, der sich durch freiwillige Übernahme
des Todes als sein Stellvertreter anbietet.
Herakles erschießt zunächst den Adler, der sich an Prometheus
Leber weidet, löst dann die Fesseln des Gequälten und stellt
als Ersatzmann den Kentaueren Chiron, der eigentlich unsterblich ist,
sich aber nach dem Tode sehnt. Außerdem rät er dem Prometheus,
einen eisernen Ring zu tragen, an dem sich ein kleiner Stein des Kaukasus-Felsens
befindet. So wird dem Zeus-Urteil formal entsprochen, nachdem ja Prometheus
für lange Zeit an den Felsen gekettet sein soll. Herakles zeigt hier,
wie die Fassade des Zeusurteils erhalten bleibt, doch dessen eigentlicher
Kern - die von Zeus beabsichtigte Qual des Prometheus - ausgehöhlt
wird.
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Im dritten und letzten Teil dieses Artikels werden die Strategeme 26 bis
36 behandelt.
Artikel-Sammlung

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