Qin Na-Training

von T.Schlaméus

Qin Na als Mittel des Kampfes

Die chinesischen Begriffe "Qin Na" kann man als "Greifen und Kontrollieren" übersetzen. Das Konzept, den Gegner zu packen, um durch Griffe, Hebel, Zwingen, Verdrehungen usw. Kontrolle auszuüben ist in den chinesischen Kampfkünsten seit Jahrhunderten bekannt.




Schriftzeichen Qin Na

Über viele Generationen hinweg haben erfahrene Meister des Kung Fu mehr als 700 standartisierte Techniken des Qin Na entwickelt. Viele dieser Techniken werden in ganz unterschiedlichen Kung Fu-Stilen auf ähnliche Weise geübt. Und selbst dort, wo sich Qin Na-Techniken in den einzelnen Stilen äußerlich unterscheiden, beruhen sie doch alle auf den selben Prinzipien.

Allerdings beinhaltet das chinesische Qin Na-System nicht nur Techniken des Greifens, sondern darüber hinaus auch Methoden des Pressens, Drückens und Schlagens. Während es bei den Grifftechniken primär um das Kontrollieren und Blockieren der Gelenke und Muskeln des Gegners geht, zielen Techniken des Pressens bzw. Schlagens im Qin Na-System auf das Betäuben bzw. Lähmen von Händen, Armen und Beinen ab oder greifen sogar wichtige physiologische Funktionen wie Atmung und Kreislaufsystem an.

Dabei konzentrieren sich Qin Na-Schlagtechniken hauptsächlich auf den Angriff jener Energiepunkte, die auch aus der Traditionellen Chinesischen Medizin her bekannt sind. Die Theorie, die hinter diesem Konzept des Qin Na steht besagt, daß Krafteinwirkung auf die bekannten Energiepunkte das Strömen des Qi beeinflußt. Kommt es aufgrund eines gezielten Schlages zu einer Störung des Qi-Fließens, dann kann dies zu Taubheit, Schmerz, Lähmung, Bewußtlosigkeit und sogar zum Tod führen.

Eine sehr alte von verschiedenen Meistern des Kung Fu vorgeschlagene Systematisierung des Qin Na sieht so aus:

1. Fen Jin - Trennen (Auseinanderziehen) von Muskeln bzw. Sehnen
2. Cuo Gu - Verschieben von Knochen
3. Bi Qi - Störung/ Blockierung/ Unterbrechen der Atmung
4. Dian Mai (Dim Mak) - Zusammenpressen von Blutgefäßen
5. Dian Xue (Dim Mak) - Pressur von Energiebahnen bzw. -punkten

Wie bei nahezu allen vorwissenschaftlichen Systemen ist auch hier eine gewisse Unschärfe der Kategorisierung auffällig, aber die Nützlichkeit der genannten Unterteilungen für das systematische Erarbeiten der Qin Na-Techniken ist offenkundig. So kann man aus dieser Systematisierung ableiten, daß die Techniken der Kategorien 1 und 2 Basismethoden darstellen, während Techniken des Atemblockierens Thema fortgeschrittener Praxis sind und Aspekte des Dim Mak wohl nur von Meistern der Kampfkunst erforscht und geübt werden.

Das Ergreifen und Kontrollieren des Gegners gilt im Kampf vor allem dann als Vorteil, wenn man es mit einem einzelnen Gegner zu tun hat. Aus der Natur des Qin Na-Konzepts ergibt sich, daß der Einsatz von Qin Na-Techniken im Kampf mit mehreren Gegnern einigen Beschränkungen unterliegt. So kann man in diesem Falle eben nicht viel Zeit auf das Kontrollieren des Gegners verwenden, denn man läuft Gefahr, dabei von einem anderen Angreifer überwältigt zu werden.

In dieser Situation dienen Qin Na-Techniken also nicht der Kontrolle des Gegners, sondern werden mit dem Ziel eingesetzt, durch das Beifügen von Verletzungen wie Gelenk- und Knochenbruch, Bänderdurchriß etc. schnell Kampfunfähigkeit zu bewirken, um sich danach sofort dem nächsten Angreifer zuzuwenden. Allerdings ist hier die Kontaktzeit auch bei sehr zügiger Ausführung der Qi Na-Technik höher, als beim Einsatz von Schlägen mit den Fäusten oder Füßen.

Aus diesem Grunde wird die Anwendung von Qin Na-Techniken in tumultartigen Situationen, z.B. Massenschlägerein oder in einer Verteidigungssituation gegen mehrere Angreifer in der Regel nicht empfohlen.


Qin Na ermöglicht das sanfte Abwehren eines Angriffs

Ein wesentlicher Vorteil beim Einsatz von Qin Na-Grifftechniken gegenüber Schlagtechniken besteht darin, daß man einen Angreifer abwehren und kontrollieren kann, ohne ihn zu verletzen. Beim Einsatz von Schlägen zur Verteidigung ist naturgemäß die Gefahr besonders groß, den Angreifer stark zu verletzen, eben weil man die Wirkung eines Schlages nur sehr schwer kontrollieren kann.

Die verhältnismäßig kurze Kontaktzeit beim Einsatz von Schlagtechniken macht eine Regulation der ausgeübten Kräfte äußerst schwierig, zumal man in wirklicher Bedrängnis dazu tendiert, so kräftig wie irgend möglich zu schlagen und nicht auf die Idee kommt, den Schlag zu dosieren.

Im Gegensatz dazu, ist es beim Einsatz von Qin Na-Grifftechniken möglich, die wirkenden Kräfte zu dosieren - gibt der Gegner nach und fügt sich dem Druck bzw. Zug, so kann man ihn in einer Position "verriegeln", die seine Bewegungsfreiheit einschränkt, ihm aber keine Verletzungen zufügt.

Dieses Konzept des sanften Abwehrens eines Angriffs ist besonders für Menschen attraktiv, die lernen möchten sich zu verteidigen, ohne dabei jedoch dem Angreifer mehr Schaden als nötig zuzufügen.

Selbstverständlich hat dieser Ansatz auch eine Kehrseite: Läßt sich der Angreifer eben nicht durch einen schmerzhaften Griff kontrollieren, weil er beispielsweise hochgradig erregt ist oder/ und unter Drogen steht, sondern bewegt er sich weiter und tiefer in die Kraftwirkung des angewendeten Hebels, dann erweisen sich Qin Na-Techniken häufig als extrem gefährlich und zerstören Gelenke, Muskeln ja sogar Knochen. Diesen Nachteil muß man als Qin Na-Praktiker stets berücksichtigen.


Vorteile des Qin Na-Trainings

Die intensive Auseinandersetzung mit Qin Na-Kampftechniken bietet dem Kung Fu-Praktiker eine Vielzahl von positiven Optionen, sie kann ihn und seine Kunst bereichern:

- Qin Na ermöglicht das sanfte Abwehren eines Angriffs
- Qin Na-Training lehrt ein genaues Verständis von Muskeln und Gelenken
- Qin Na-Training schult eine hochentwickelte Körperwahrnehmung
- Qin Na-Training entwickelt geistige Ausdauer und einen starken Willen
- Qin Na-Training lehrt ein genaues Verständnis von Qi
- Qin Na-Training fördert Balance, Stabilität, Zentrum und Wurzelung
- Qin Na-Training dehnt Muskeln, Sehnen, Bänder und Gelenke
- Qin Na-Training kräftigt Muskeln, Sehnen, Bänder und Gelenke
- Qin Na-Training lehrt Grundaspekte der TCM

Einige der genannten Aspekte müssen nicht genauer erläutert werden. Die Entwicklung einer sehr präzisen Körperwahrnehmung hängt mit der Eigenart des Qin Na-Trainings zusammen, in ständigem Kontakt mit den Strukturen des Körpers zu arbeiten und deren Rückmeldungen zu berücksichtigen.

So ist man beim Üben von Hebeln damit beschäftigt, den Körper des Partners in engem Kontakt zu bewegen, man greift, dreht, zieht, schiebt... Dies führt zur genauen Kenntnis der anatomischen Gegebenheiten und auch zu einer erhöhten Sensibilität für die Stellung der Gelenke, die Spannung der Muskulatur usw.

Da Qin Na-Training nicht selten schmerzhaft ist, erfordert und schult es in mentaler Hinsicht eine gewisse Zähigkeit, Ausdauer und einen starken Willen.

Die Auseinandersetzung mit der Qi-Lehre spielt nicht erst dann eine Rolle, wenn es um die Frage geht, welche Körperareale des Gegners angegriffen werden sollen, sondern bereits in der Phase des Qin Na-Aufbautrainings. So wird ein spezielles Qigong trainiert, um die Fähigkeiten des Zupackens, Umwickelns, Verdrehens usw. zu üben.

Die Methoden des Qin Na zielen ganz wesentlich darauf ab, einen Gegner durch den Einsatz von Griffen und Hebeln zu demobilisieren. Es wird häufig von der Option Gebrauch gemacht, den Gegner zu Boden zu bringen (Takedown), um ihn dann dort zu fixieren, d.h. in einer Position zu blockieren, die ihm keine Möglichkeit des Weiterkämpfens bietet.

All dies entwickelt im Qin Na-Praktiker ein ausgeprägtes Gespür für Balance, Stabilität, Zentrum und Verwurzelung im Boden. Das partnerweise Üben der Hebel dehnt die Muskeln, die Bänder und die Gelenke. Selbstverständlich ist es hier wichtig, Sorgfalt und Rücksicht walten zu lassen, denn ein überzogener Griff kann zu schweren Verletzungen des Trainingspartners führen.

Allerdings äußern sich die meisten Lehrer von Qin Na-Techniken einstimmig in dem Punkt, daß kleinere trainingsbedingte Verletzungen auf Dauer nicht völlig zu vermeiden sind: Dr. Yang Jwing Ming sieht es als positiven Trainingseffekt an, daß eben jene kleineren Verletzungen den Praktiker zu einer intensiven Beschäftigung mit den grundsätzlichen Aspekten der traditionellen Medizin veranlassen. So sollte in jeder Qin Na-Ausbildung die grundlegende Behandlung von Überdehnungen bzw. Zerrungen erläutert werden.


Qin Na als System

Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Qin Na ein System von Kampftechniken darstellt. Es handelt sich also nicht lediglich um eine Sammlung von Techniken, sondern um eine komplexe Kunst, die nur durch das Erarbeiten verschiedener Aspekte von Theorie und Praxis gemeistert werden kann.

Allerdings ist keine chinesische Kampfkunst bekannt, die sich auf die Anwendung von Qin Na-Techniken beschränkt. Die ganzheitliche Sicht der chinesischen Weltwahrnehmung legt den Übenden der Kampfkünste nahe, sich nicht auf eine einzige Methode zu konzentrieren, sondern viele unterschiedliche Ansätze sinnvoll zu kombinieren.

Systematisches Qin Na-Training beinhaltet eine Vielzahl von Übungskomplexen, die vom Praktiker gemeistert werden müssen, um ein profundes Verständnis zu erlangen, das es ermöglicht Qin Na-Techniken im Kampf erfolgreich einzusetzen. Vor diesem Hintergrund muß auch das isolierte Vermitteln einzelner Techniken in allgemeinen Kursen für Selbstverteidigung als beschränkt betrachtet werden, denn es genügt nicht, drei oder vier Techniken theoretisch zu kennen bzw. einige Male geübt zu haben.

Kung Fu zeichnet sich eben gerade durch ein hochentwickeltes Wissen darüber aus, wie physische, technische, geistige und energetische Aspekte im kämpferischen Geschehen zusammenwirken. Aus diesem Grunde kann das alleinige Üben von Techniken nicht als solide Vorbereitung betrachtet werden.

Systematisches Qin Na-Training beinhaltet folgende Komponenten:

- Körperliches Grundlagen-Training
- Fortgeschrittenes Körperliches Aufbautraining
- Theoretische Grundlagenvermittlung
- Spezielles Qingong-Training für die Bedürfnisse des Qin Na-Praktikers
- Technisches Basistraining
- Fortgeschrittenes Technisches Training
- Heilpraktische Techniken
- Anwendungs-Training

Die Erarbeitung dieser verschiedenen Aspekte erlaubt es, von einem System des Qin Na zu sprechen. Isoliert man gewisse Elemente dieses Systems, dann erhält man lediglich Stückwerk.

Beim körperlichen Grundlagen-Training geht es darum sicherzustellen, daß sich der Schüler auf dem Level "normaler Gesundheit" befindet. Alles, was später folgt, wird über diesen Level hinausgehen, deshalb ist es zunächst wichtig, eventuelle Verletzungen und körperliche Probleme mit Hilfe von allgemeinen Qigong-Übungen (Lockern, Lösen, Entspannen, Mobilisieren, Dehnen, Kräftigen) zu behandeln.

Ist der gute Gesundheitszustand des Schülers sichergestellt, dann erfolgt ein systematisches physisches Aufbautraining, das mit theoretischer Grundlagenvermittlung und speziellen Qigong-Übungen zusammenwirkt. Ziel dieser Maßnahmen ist es, insbesondere jene körperlichen Strukturen zu kräftigen, die beim Training und der Anwendung von Qin Na-Techniken starken Belastungen ausgesetzt sind.

Dazu muß vom Schüler einerseits die praktische Übung absolviert werden (z.B. Training mit Gewichten, Langstäben, Steinen zur Erarbeitung eines starken Handgelenks, Qin Na-Qigong etc.) und andererseits auch theoretisch verstanden werden, auf welchen anatomischen und energetischen Grundlagen Qin Na-Techniken beruhen.

Das technische Basistraining besteht aus der Erarbeitung elementarer Stände, Griffe, Hebel und Fixierungen. Hier werden die Grundmuster späterer Anwendungen vermittelt und geübt. Dabei muß jedem Schüler klar sein, daß sich diese Grundmuster nicht direkt im Kampf anwenden lassen. Es geht hier lediglich um die Erarbeitung der Qin Na-Grundprinzipien.

Das Anwendungstraining hingegen simuliert auf unterschiedlichen Schwierigkeitsniveaus den Ernstfall. Eine der elementaren Stufen dieses Bereichs ist das Training von Abwehrtechniken gegen nicht-festgelegte Angriffe. Eine weitere, komplexere Stufe ist das Üben von Qin Na-Techniken gegen einen Angreifer, der sich gegen die verwendete Verteidigung zu Wehr setzt. So wird aus den ursprünglichen formellen Grundübungen, den standartisierten technischen Basisformen Schritt für Schritt etwas Lebendiges.

Im Bereich fortgeschrittenen Technik-Trainings werden Aspekte des Konters behandelt, also die Frage, wie man eine Qin Na-Technik mit einer anderen Qin Na-Technik abwehrt. Der Spektrum der behandelten Abwehrvarianten wird ausgedehnt und schließlich der Bereich von kombinierten Qin Na-Techniken betreten. Hier geht es um das Üben von Hebelketten, in denen sich die Wirkungen einzelner Qin Na-Techniken gegenseitig verstärken.

So können zwei kurz hintereinander applizierte Hebeltechniken, die den Körper des Angreifers erst in eine Ausweichbewegung zwingen und dann ruckartig in die entgegengesetzte Richtung reißen enorme Kräfte entfalten.

Das Üben von Heiltechniken, wie z.B. Heil-Atmung, Massage und Akupressur, soll den Schüler in die Lage versetzen, kleinere trainingsbedingte Verletzungen selbständig zu behandeln. Außerdem ergibt sich aus einem solchen Wissen auch die Möglichkeit, im Falle eines realen Angriffs nach dem Kampf zu helfen - entweder sich selbst oder dem verletzten Angreifer.


Qin Na als stilübergreifendes Element der Kampfkünste

Abschließend soll ein Aspekt des Qin Na-Trainings diskutiert werden, dem ein großes Potential der gegenseitigen, stilübergreifenden Verständigung innewohnt. Die Auseinandersetzung mit Qin Na-Techniken ist für nahezu alle Kampfkünstler sinnvoll, insbesondere für jene, die sich mit den zahlreichen Varianten realistischer Selbstverteidigungmethoden befassen.

Qin Na-Techniken eignen sich hervorragend zur Analyse und Integration in das eigene kämpferische System. Aus diesem Grunde bietet sich hier für die Vertreter aller Kung Fu-Stile eine große Chance des Austauschs, der Kooperation und Verständigung.

So ist beispielsweise denkbar, daß die Lehrer unterschiedlicher Stile in Qin Na-Seminaren zusammenarbeiten und auf diese Weise ihren Schülern und sich selbst die Option eröffnen, einen Wissensaustausch in Gang zu setzen, der die gesamte Kung Fu-Gemeinschaft nachhaltig positiv prägen könnte.



Quellen:

Al Arsenault "Chin Na in Ground Fighting"
Liang, Shou-Yu "The Art of San Shou Kuai Jiao"
Dr. Yang Jwing-Ming "Analysis of Shaolin Chin Na"
Dr. Yang Jwing-Ming "Comprehensive Applications of Shaolin Chin Na"


KFSB, 10.7.2005

 


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