Die Geschichte der Philosophie in China
von den Ursprüngen bis zu Konfuzius
von Thorre Schlaméus
Inhalt:
Einführung - Kunst und Politik, Mensch und Kosmos
Geographisch-soziale Grundvoraussetzungen der chinesischen Philosophie
Sprachlich-schriftliche Voraussetzungen
Anfänge der chinesischen Philosophie - Priester und Schamanen
Der Zerfall des Zhou-Reiches und die Geburt der chinesischen Philosophie
Konfuzius
Die "Fünf Klassiker"
Der Philosoph Mo Di und seine Nachfolger
Ausblick: Die stärksten Gegner des Konfuzianismus
Quellen
Einführung - Kunst und Politik, Mensch und Kosmos
Während wir der chinesischen Geisteskultur ohne weiteres ein hohes
Maß an Weisheit zuerkennen, so zögern wir allerdings in der
Beantwortung der Frage, ob sich die chinesische Kultur auch durch eine
systematische Suche nach Wahrheit auszeichnet. Der westliche Philosophiebegriff
ist jedoch eng mit dem Thema der Wahrheitssuche verbunden, deshalb ergibt
sich am Anfang dieser Überblicksbetrachtung sogleich das Problem,
ob wir es bei den chinesischen Weisheitslehren überhaupt mit Philosophie
im westlichen Sinne zu tun haben.
Ohne diese Schwierigkeit grundsätzlich lösen zu können,
denn das hieße den Rahmen dieser Arbeit zu sprengen, soll der Hinweis
genügen, daß man die Philosophen der verschiedensten Schulen
Chinas recht frühzeitig als Einheit auffaßte, als eine Gruppe
von Denkern, die zwar nicht unbedingt nach universeller Wahrheit, so doch
immerhin nach dem richtigen Tun und Lassen suchten.
In einem grundlegenden Geschichtswerk Chinas, den "Historischen Aufzeichnungen"
(Shiji) spricht der Verfasser Sima Qian (?145-?86 v.Chr.)
von den "Sechs Philosophiefamilien" (Liu Jia) als Denkschulen,
die zwar unterschiedliche Methoden anwenden, jedoch dem gleichem Ziel
folgen - "sie streiten allesamt für eine gute Regierung der
Welt"...
Schriftzeichen Shiji, in der Übersetzung
"Historische Aufzeichnungen"
und Liu Jia, in der Übersetzung wörtlich "Sechs
Familien"
Sima Qian führt unter dem Begriff der
"Sechs Philosophiefamilien" folgende Schulen an: die Yinyang-Gelehrten,
die Konfuzianer, die Mohisten, die Logiker, die Legalisten und die Daoisten.
Das Streiten aller sechs Schulen "für eine gute Regierung der
Welt" drückt eine deutliche Nähe der chinesischen Philosophen
zur Politik aus.
Die chinesische Philosophie weist allerdings nicht nur einen engen Bezug
zur Politik auf, sondern läßt auch eine starke Verbindung zur
Kunst erkennen. Dies wird deutlich, wenn man den Ausdruck Zi untersucht.
Übersetzt wird dieser Begriff neben seiner ursprünglichen Bedeutung
"Sohn" im Zusammenhang der Philosophie (und anderer Künste)
mit "Meister", er findet sich häufig mit und ohne vorangestellten
Familiennamen als ehrende Anrede (z.B. "Meister Kong", latinisiert
Konfuzius für chin. Kongzi oder "Meister Meng",
latinisiert Menzius für chin. Mengzi).
Schriftzeichen Zi, in der
Übersetzung hier etwa "Meister"
Nun war die Verwendung von Zi als einem
Meister im Sinne geistiger Herausgehobenheit nicht auf den Bereich des
Philosophischen beschränkt. Innerhalb einer einheitlich als "Meister"
bezeichneten Gruppe fanden sich neben Philosophen auch Maler, Musiker,
Geschichtenerzähler, Militärstrategen (z.B. Sunzi) und
Köche. Diese Einordnung zeigt, daß man Philosophie als eine
Meisterschaft verstand, die sich im Prinzip nicht von der Tätigkeit
eines Künstlers unterschied.
Der chinesische Philosophiehistoriker Feng Youlan (1895-1990) sieht die
beiden Pole von Politik und Kunst, zwischen denen sich die chinesische
Philosophie aufspannt, als Ursache für deren einerseits im Äußerlichen
praxisbezogene, gesellschaftsbetonte Zielsetzung (Politik) und andererseits
im Innerlichen mehr mit Andeutung als mit Systematik operierende Vortragsweise
(Kunst).
Die von vielen Philosophiehistorikern, so auch von Feng Youlan, geäußerte
Ansicht, chinesische Philosphie zeichne sich gegenüber der westlichen
besonders durch Lebensnähe und Betonung der Praxis aus, entspricht
der Realität, bedeutet jedoch nicht, daß chinesische Philosophen
niemals über Mythologie und Metaphysik spekuliert hätten. Der
starke Einfluß der Konfuzianer bedingte, daß praxisorientierte
Lehren in Rezeption und Geschichtsschreibung stärker betont wurden,
als solche Lehren, die sich mit Kosmologie und Natur beschäftigten.
Um eine etwas verkürzende, aber recht treffende Zweiteilung vorzunehmen:
Während sich eine Strömung der chinesischen Philosophie vor
allem mit dem Menschen, seiner Ethik und Sitte, seiner Gesellschaft und
Geschichte befaßte, beschäftigten sich die Vertreter der anderen
Strömung mit den Thema des Nicht-Menschlichen, mit dem Kosmos, der
Natur und den das Universum bewegenden Kräften.
Geographisch-soziale Grundvoraussetzungen der chinesischen Philosophie
Die Tatsache, daß China von sehr früher Zeit an bis weit in
die Hälfte des 20. Jahrhunderts durch Agrarwirtschaft geprägt
war, hatte für die Interessen und Wertvorstellungen seiner Einwohner
gravierende Folgen. Wir wissen, daß Menschen, die eng von und mit
der Natur leben, ein starkes Interesse an deren Rhythmen und Funktionskreisläufen
besitzen.
Das direkte Angewiesensein auf natürliche Vorgänge, die sich
dem Einfluß des Menschen weitgehend entziehen, prägt Werte
wie Geduld und Wartenkönnen und bestärkt ein Denken in zyklischen
Mustern, das jedem Tun und Lassen einen richtigen Zeitpunkt innerhalb
des natürlichen Kreislaufs zuordnet.
Eine weitere Grundvoraussetzung des chinesischen Denkens ist die patriarchalische
Familie. Die feste Etablierung der patriachalischen Familie ist in China
seit Beginn der historisch faßbaren Zeit nachweisbar, sie stellte
das Abbild einer höheren Ordnung (Verhältnis zwischen Himmel
und Erde) dar und gab eine hierarchische Architektur von Gesellschaft
und Kosmos vor.
Die herausragende Stellung des Patriarchen wird im chinesischen Schriftzeichen
Fu deutlich, das "Vater" bedeutet. Die Entstehung dieses
Zeichens wird mit dem Symbol zweier gekreuzter (Schlag-) Stöcke in
Zusammenhang gebracht, durch deren Einsatz das Familienoberhaupt die Einhaltung
von Regeln erzwingt, also ein Hinweis auf die totale Autorität des
Vaters.
Schriftzeichen Fu, in der Übersetzung "Vater"
Eine dritte Grundvoraussetzung der chinesischen
Philosophie wird von verschiedenen Autoren in der Tatsache gesehen, daß
die Herausbildung der chinesischen Gesellschaft eng mit der Wasserwirtschaft,
d.h. mit Wasserbau und Bewässerung verbunden war. Ein Charakteristikum
umfangreicher Wasserwirtschaft besteht im Erfordernis, große Menschenmassen
genau zu koordinieren.
Einige Autoren führen die antiindividualistische Grundhaltung des
chinesischen Denkens auf Sachzwänge innerhalb der "hydraulischen
Gesellschaft" zurück, die den Einzelnen sehr streng in das hierarchische
Gefüge der Gemeinschaft einordnete. Hier zählte ein Menschenleben
nicht viel, worauf es ankam, war das Gelingen des in Gemeinschaftsarbeit
ausgeführten Projektes.
So ist beispielsweise aus der Geschichte des
sogenannten Großen Kanals (Yunhe), dessen Bau im Jahre 486
v.Chr. (Wu-Dynastie) begonnen wurde, bekannt, daß während der
erweiternden Baumaßnahmen des 1800 Kilometer langen Wassersystems
im sechsten Jahrhundert ungefähr die Hälfte der sechs Millionen
Arbeiter ums Leben kamen.
Schriftzeichen Yunhe,
Name des Großen Kanals
Man kann sich vorstellen, daß eine derartig
totale Einbindung, ja Unterordnung des einzelnen Menschen auch auf dem
Gebiet des Denkens Spuren hinterlassen mußte.
Ein weiterer Aspekt, den man als Grundvoraussetzung der chinesischen Philosphie
betrachten kann, wird deutlich, wenn man die kontinentale Lage Chinas
untersucht. China sah sich selbst als das "Land innerhalb der vier
Meere", es wies ein geschlossenes Ganzes im Innern auf, war aber
nach außen hin durch Meere und Gebirge recht stark isoliert. Zu
dieser geographisch bedingten Isolation kam eine frei gewählte, die
Große Mauer mag hier als monumentales Bild dieser Verbarrikadierung
gelten.
Sprachlich-schriftliche Voraussetzungen
Einige Faktoren, die das chinesische Denken stark prägten, entstammen
dem Bereich der chinesischen Kultur selbst. Insbesondere die chinesische
Sprache weist mehrere Eigenheiten auf, die für alle sprach- und schriftabhängigen
Entwicklungen der chinesischen Kultur von tiefgreifender Bedeutung sein
mußten.
Da die chinesische Schrift eine Begriffsschrift ist, lassen sich Fremdworte
nur sehr schwer einfügen. Das Hauptproblem dabei besteht in der Tatsache,
daß es hier keine "bedeutungslosen" Buchstaben gibt, so
wie in den phonetischen Schriftsystemen. Jedes Zeichen der chinesischen
Schrift besitzt eben nicht nur einen phonetischen Wert, also eine Information,
wie es auszusprechen ist, sondern in erster Linie eine Bedeutung.
Überträgt man nun einen philosophischen Fremdbegriff, wie das
"Aufheben" (im Hegelschen Sinne) so wird daraus in der phonetischen
Transliteration die Zeichenkette ao-fu-he-bian, was so ähnlich
wie "aufheben" klingen mag, aber der Bedeutung nach eine sinnlose
Wortgruppe ("dunkel-beugen-hell-verändern") ergibt.
Da die meisten in China eingeführten Fremdworte auf der Bedeutungsebene
eben durch diese Art von Sinnlosigkeit auffielen, war stets klar, daß
es sich um rein phonetisch transliterierte Begriffe handelte, und dies
erschwerte es den Fremdworten nicht nur in die chinesische Kultur einzudringen,
sondern führte auch häufig dazu, daß eingeführte
Begriffe schnell wieder eliminiert wurden.
Das Chinesische ist eine isolierende Sprache, d.h. es existieren keine
grammatischen Funktionselemente. Stellt man sich nun eine Sprache vor,
in der ausschließlich bedeutungstragende Elemente zusammengefügt
werden, keine Wortklassen und auch keine Tempora existieren, das Wörtchen
"ist" unbekannt bleibt, dann mag man sich ausmalen, welche Folgen
das für eine sprachabhängige Disziplin wie die Philosophie haben
muß.
Da es im Chinesischen sehr schwierig ist, einen Sachverhalt präzise
zu formulieren, abstrakte Gedankengänge verständlich darzustellen,
griff man zu verschiedenen Hilfsmitteln: dem Erzählen von Geschichten,
aus denen dann Bedeutung abstrahiert werden konnte sowie numerologische
und graphisch vorstellbare Strukturen. Es findet sich also eine starke
Betonung des Bildlichen.
Anfänge der chinesischen Philosophie - Priester und Schamanen
Die chinesische Kultur war schon ein bis eineinhalb Jahrtausende alt,
als mit Konfuzius (551-479 v.Chr.) der erste historisch faßbare
Philosoph erschien. Allerdings verfügen wir über Zeugnisse einer
geistigen Auseinandersetzung mit der Welt bereits aus der Zeit um 1500
bis 1050 v.Chr.
Es handelt sich dabei um die sogenannten "Knocheninschriften",
Orakelfragen und -antworten auf Knochen und Schildkrötenpanzern,
die von Priestern in einem sehr komplizierten Verfahren präpariert
und dann erhitzt wurden. Aus den sich bildenden Rissen las man die Antworten,
ritzte anschließend Fragen und Antworten in die Knochen bzw. Panzer
und stellte sie zu Archiven zusammen.
Schriftzeichen auf einem Orakelknochen,
Quelle: http://de.wikipedia.org
Die Rolle der Priester war von großer
Bedeutung, sowohl für die Entwicklung der Schrift, als auch für
die Pflege des Wissens um historische Vorgänge, denn die Priester
berieten die Shang-Könige nicht nur in politischen Dingen, sondern
sie notierten auch mehr oder weniger kontinuierlich, was sich im Umfeld
der Weissagungen ereignete.
Einige Autoren sehen in den Orakelpriestern direkte geistige Vorfahren
der konfuzianischen Philosophen, denn schon zur Zeit der Shang-Dynastie
deutet sich eben in den Aktivitäten der Priester eine Verbindung
von Politik, Geschichtskritik und Ethik an. Gerade dieses über das
Notieren historischer Vorgänge hinausgehende kritische Kommentieren
und Beurteilen war charakteristisch für die spätere konfuzianische
Philosophie.
Schriftzeichen Shi,
in der Übersetzung "Priester"
Die gegenüber den Priestern quasi konkurrierende
Berufsgruppe waren die Schamanen. Sie wurden im Chinesischen als Wu
bezeichnet, hier existieren phonetisch Ähnlichkeiten zu dem Wu
des Tanzes (Tänzer) und einem weiteren Wu-Schriftzeichen,
das in militärisch-kriegerischen Kontexten Bedeutung besitzt. Alle
diese Bezeichnungen scheinen in einem gewissen Zusammenhang zu stehen.
So waren die Schamanen am Hofe des Kaisers und auch innerhalb des Volkes
für Geisterbannung, Geisterbeschwörung und andere magische Handlungen
verschiedenster Art zuständig. Dabei wurden sehr häufig rituelle
Tänze aufgeführt, und es ist durchaus denkbar, daß einige
solcher Tänze in einer Verbindung zu kriegerischen Aspekten der chinesischen
Kultur standen.
Drei Schriftzeichen Wu, in der Bedeutung
"Schamane", "Tänzer" und "kriegerisch"
In einer ähnlichen Weise, wie die Orakelpriester
gelegentlich als Vorläufer des Konfuzianismus angesehen werden, betrachten
einige Autoren die Schamanen als geistige Vorfahren der späteren
Daoisten. Dies ist durchaus nicht abwegig, stehen doch auch die praktizierenden
Schamanen unserer Zeit der daoistischen "Volksreligion" nahe.
Der Zerfall des Zhou-Reiches und die Geburt der chinesischen Philosophie
Die politische Situation, in der die chinesische Philosophie geboren wurde,
prägte das Denken der ersten Philosophen Chinas, und das waren Konfuzius
und seine Anhänger. In gewisser Hinsicht beeinflußte sie dadurch
auch nachfolgende Denkergenerationen, da diese sich vor allem durch ihre
Reaktionen auf den Konfuzianismus profilierten.
Wie sah es gegen Ende der Zhou-Dynastie in China aus? Die Gesellschaft
war krank. Nun ist zwar jede Krankheit gewissermaßen eine Betriebsstörung
des Organismus, aber man darf eine solche Störung nicht unbedingt
als Schädigung auffassen, im Gegenteil: nicht selten ist die Krankheit
Vorbedingung einer fruchtbaren Neuerung. Die Schwäche der Zhou-Gesellschaft,
die Erschütterung ihrer inneren Einheit muß jedenfalls als
Voraussetzung für die sogenannte "Ära der Philosophen"
(500-300 v.Chr.) gesehen werden.
Ungefähre Ausbreitung der Shang-Dynastie;
Quelle: http://de.wikipedia.org
Fassen wir die Geschehnisse kurz zusammen:
Die alte Shang-Dynastie war in den Jahren um 1030 v.Chr. von den Zhou,
die aus den Gegenden des westlichen Shang-Reiches stammten, überrannt
worden. Die Sieger klärten das Volk auch gleich darüber auf,
weshalb die Shang untergegangen waren: Sie hatten das "Mandat des
Himmels" verspielt, durch ihre sittlich verderbte Lebensweise den
göttlichlichen Auftrag verloren.
Schriftzeichen Shang Chao,
in der Übersetzung "Shang Dynastie"
Dieser "Auftrag des Himmels" spielte
in der Geschichte Chinas überhaupt eine wichtige Rolle, jede Regierung
gab vor, durch den Willen des Himmels zur Ausübung der politischen
Macht, sprich zur Herrschaft legitimiert zu sein. Aus diesem Grunde besaß
der Kult, in dessen Zentrum himmlische Opfergaben standen, enorme Bedeutung.
Er funktionierte als symbolisches Bindeglied zwischen Herrscher und Himmel.
Die allgemeine Situation zu Beginn der der Zhou-Dynastie muß man
sich als eine konfliktreiche Zeit vorstellen, in der ca. 170 verschiedene
kleinere Königreiche und Stammesverbände sich gegenseitig kriegerisch
bekämpften. Aufgrund dieses bereits kritischen Ausgangspunktes, der
schieren Größe des Reiches und eskalierender Feindschaften
zwischen den Familien des Hochadels wurde es für das Zhou-Königshaus
zunehmend schwieriger, seine Herrschaft dauerhaft zu stabilisieren.
Ungefähre Ausbreitung der Zhou-Dynastie;
Quelle: http://de.wikipedia.org
Gegen Ende der Zhou-Dynastie, also zur "Zeit
der streitenden Reiche" um 480 bis 220 v.Chr., führte der erlittene
Machtverlust der Zhou-Könige zu einer immer stärkeren Zentralisierung:
Durch Zusammenschluß verschiedener Königreiche entstanden kompaktere
Einflußsphären, schließlich existierten lediglich sieben
Königreiche, die sich gegenseitig erbittert bekämpften. So verbündeten
sich u.a. die Qi, die Zhou und die Qin in wechselnden Koalitionen und
stritten um die Vorherrschaft.
Schriftzeichen Zhou Chao,
in der Übersetzung "Zhou Dynastie"
Charakteristisch für diese Umbruchzeit
ist, daß es nicht gelang, die Zhou vollständig zu entmachten,
obwohl die Dynastie ausgehöhlt und entwurzelt am Boden lag. Doch
niemand versetzte diesem Sterben den letzten Stoß: Die Zhou blieben
die durch Vollzug der himmlischen Opferkulte legitimierten Herrscher,
auch wenn sie schließlich keinerlei weitergehenden politischen Einfluß
mehr besaßen.
Wir blicken hier also auf eine Situation des Chaos, die auf der politischen
Ebene durch einen pathologischen Zustand gekennzeichnet ist, nämlich
die Spaltung des gesamten Weltbildes in den nicht durch politische Macht
legitimierten Kult einerseits und die nicht durch den Kult legitimierte
Macht andererseits. Wir blicken auf ein Hin und Her kämpfender Armeen,
auf Fürsten und Könige, die sich zur Herrschaft aufschwingen,
nur, um sogleich wieder gestürzt zu werden - die chinesische Gesellschaft
hatte gleichsam ihr statisches Organ verloren.
Es ist offenkundig, daß in dieser Situation der Kult selbst Schaden
nahm, er degenerierte zur Farce, denn er wurde von Repräsentanten
einer politisch entmachteten und deshalb bedeutungslos gewordenenen Dynastie
ausgeführt. Andererseits erlitt auch die Legitimation der Macht Schaden,
denn die Macht verkam zur bloßen Gewaltherrschaft. Wir können
nachvollziehen, wie intensiv man in jener Zeit nach Orientierung suchte,
und dieses Interesse wurde von einem Gelehrten aufgegriffen, der aus niedrigen
Adelskreisen des Kleinstaates Lu stammte: Konfuzius.
Konfuzius
Konfuzius trat nicht als Verkünder neuer Lehren auf, sondern bezeichnete
sich ganz im Gegenteil als Erinnerer, als ein auf Verschüttetes hinweisender
Denker. Diese Strategie bewirkte eine gewisse Unanfechtbarkeit seiner
Äußerungen, denn das Alte, das Historische ist im Denken der
Chinesen stets mit dem Prädikat des Bewährten verbunden gewesen.
Schriftzeichen Kongzi, in der Übersetzung
"Meister Kong", latinisiert Konfuzius
Konfuzius bezog sich auf eine Ära des
Altertums, die im ersten Abschnitt der Zhou-Dynastie, also um 1050 bis
770 v.Chr. anzusiedeln ist. Zu jener Zeit waren Macht und Kult noch nicht
gespalten, sondern stellten eine ideale Einheit dar. Das Fundament, auf
dem die Weltanschauung dieser Ära ruhte, war allerdings eine ziemlich
strenge gesellschaftliche Hierarchie, und eben dieses alte Ordnungsgefüge
wollte Konfuzius bewahren.
Der Bezug auf das Altertum wurde für den Konfuzianismus insgesamt
charakteristisch. Man betonte das Lernen (Xue), stellte es dem
Denken (Si) gegenüber, um dabei eine höhere Wertigkeit
des Studierens herauszuarbeiten: "Lernen ohne zu denken ist sinnlos,
aber Denken ohne Lernen ist gefährlich" (Konfuzius) Damit sollte
einerseits sicher zum Ausdruck gebracht werden, daß grübelndes
Denken schnell in unfruchtbare Spekulation abgleiten kann.
Hinter dieser Höherbewertung des Lernens gegenüber dem Denken
verbirgt sich möglicherweise aber auch die Auffassung, daß
dem freien, ungehemmten Denken ein gewisses amoralisches und auch anarchistisches
Potential innewohnt, hingegen das Lernen (von den Vorfahren) immer einen
deutlichen Bezug zu den Werten der Vergangenheit aufweist.
Schriftzeichen Xue, in der Übersetzung "Lernen"
und Si, in der Übersetzung "Denken"
Konfuzius und seine Anhänger prägten
einen Zentralbegriff, unter den sich alle anderen konfuzianischen Ideale
einordnen lassen. Es handelt sich dabei um den Ausdruck Ren, der
ursprünglich mit dem Wort "Mensch" identisch war und sich
später zum Abstraktum "Menschlichkeit" wandelte. Vor Konfuzius
kreiste das Denken vor allem um die Geister der Ahnen und der Natur, mit
dem Ren-Begriff des Konfuzius rückt nun der Mensch ins Zentrum
der geistigen Reflexion.
Schriftzeichen Ren, in der Übersetzung
ursprünglich (und immer noch gebraucht) "Mensch",
bei Konfuzius dann auch "Menschlichkeit"
Verhielt sich ein Mensch entsprechend der
Regeln der Menschlichkeit, so verlieh ihm das im Denken des Konfuzius
einen natürlichen Adel. Dies wird ersichtlich, wenn man die konfuzianische
Umdeutung des Begriffs Junzi betrachtet, der ursprünglich
einen "Fürstensohn" bezeichnete, bei Konfuzius aber die
Bedeutung "Edler" im ethischen Sinne annimmt. Ihm gegenüber
steht der Typus des "kleinen Menschen" (Xiao Ren), der
den Ansprüchen ethisch gesitteten Verhaltens (noch) nicht gerecht
wird.
Schriftzeichen Junzi ("Edler") und Xiao Ren ("Kleiner
Mensch")
In diesem Kontext mußte natürlich
auch die Einschätzung der realen Aristokratie überarbeitet werden:
Konfuzius betonte, was bereits vor ihm artikuliert worden war, allerdings
nicht so eindringlich, nämlich, daß sich die adligen Herrscher
durch besondere moralische Qualitäten auszeichnen müßten.
Ihrem "himmlischen" Mandat konnten sie sich nur dann als würdig
erweisen, wenn sie den hohen Regeln ethisch-sittlichen Verhaltens folgten.
Diese Auffassung setzt sich zwar letztlich in China allgemein durch, aber
dafür brauchte es einige Jahrhunderte.
Die dem konfuzianischen Begriff der Menschlichkeit zugrunde liegende progressive
Haltung wirkt allerdings nicht sehr konsequent. Tatsächlich beruht
der von Konfuzius beschriebene Tugendkatalog auf hierarchischen Denkweisen
- das bedeutet, es gelten keineswegs für alle Menschen die gleichen
Regeln. Die angemessenen Verhaltensformen werden von Konfuzius positionsbezogen
beschrieben.
So hatte sich der Untergebene gegenüber seinem Fürsten anderen,
nämlich weiter reichenden Pflichten zu unterwerfen, als umgekehrt.
Dieses Mißverhältnis existierte auch in den Beziehungskonstellationen
zwischen Kindern und ihren Eltern, Ehefrau und Ehemann usw. Das Denken
des Konfuzius hat also die überkommene Hierarchie nicht aufgehoben,
obwohl diese genau genommen seinem Menschlichkeitsbegriff widerspricht.
Gerade das Festhalten an den alten Hierarchiemodellen wird den Konfuzianern
von Anhängern konkurrierender Lehren bis zum heutigen Tag vorgeworfen.
In einem konfuzianischen "Verhältniskatalog", dem Wulun,
wurden alle elementaren zwischenmenschlichen Hierarchieebenen aufgeschlüsselt
und die jeweils gültigen Verhaltensregeln festgeschrieben. Wulun
bedeutet "Fünf Beziehungen", hierunter wurden die Verhältnisse
zwischen Vater und Sohn, Fürst und Untertan, Mann und Frau, Alt und
Jung sowie unter Freunden gezählt.
Schriftzeichen Wulun, in der Übersetzung
"Fünf Beziehungen"
Als besonders wertvolle, erstrebenswürdige
Tugenden wurden dem konfuzianischen Ren-Begriff "Zuverlässigkeit"
bzw. "Ehrlichkeit" (Xin) und "Direktheit" bzw.
"Aufrichtigkeit" (Zhi) zugeordnet.
Schriftzeichen Xin, in der Übersetzung "Zuverlässigkeit"
und Zhi, in der Übersetzung "Direktheit"
Obwohl Konfuzius sich für die bewußte
gedankliche Ablösung von der Geisterwelt einsetzte, denn er wollte
den Menschen in den Fokus des Denkens rücken, schätzte er den
Kult und das Ritual. Hier äußert sich eine Haltung, die dem
Rituellen, dem Zeremoniellen, damit im weiteren Sinne auch dem kultivierten
Benehmen, der Etikette sozusagen, eine zentrale Bedeutung für jegliche
Erziehung und Bildung beimißt.
Und tatsächlich wurde das "offzielle" China ja in der Rezeption
der westlichen Welt vor allem durch den unfangreichen Komplex zeremonieller
Handlungen bekannt. Die Daoisten Chinas wiederum verspotteten die Konfuzianer
wegen ihrer steif und geziert wirkenden Rituale.
Tatsache ist allerdings, daß gerade die Betonung des Zeremoniellen
dem Konfuzianismus eine enorme Vitalität verlieh, denn mochten viele
Rituale auch sinnentleert sein - und das waren sie bereits, als Konfuzius
begann, sie zu schützen - so rührten sie doch die Gemüter
der Menschen an, die Halt und Orientierung suchten.
Zusammenfassend: Der Konfuzianismus hat ein Doppelgesicht, je nachdem
man den Schwerpunkt seiner Lehren in die Bewahrung der strengen gesellschaftlichen
Hierarchie oder in den geradezu aufklärerisch wirkenden Menschlichkeitsbegriff
verlegt. Als Hauptcharakteristikum des Konfuzianismus kann das Vermeiden
von Extremen gelten, das Streben nach Ausgewogenheit und Gemessenheit.
Konfuzius bezieht, um mit einem Bild zu sprechen, die Position der Mitte.
Die "Fünf Klassiker"
Die Gelehrten des Konfuzianismus erhoben fünf Schriften zu Klassikern
(Wu Jing, wörtl. "Fünf Leitfäden"), die
sie den fünf als bedeutsam geltenden Kulturbereichen zuordneten:
Das waren 1. ein historisches Werk mit dem Namen Chunqiu ("Frühlings-
und Herbstannalen"), ; 2. ein Ritualwerk mit dem Titel Yili
("Zeremonien und Riten"); 3. eine Sammlung von politischen Reden
mit dem Namen Shujing ("Buch der Urkunden"); 4. eine
Sammlung von Liedern namens Shijing ("Buch der Geschichte")
und 5. ein Wahrsagebuch mit dem Titel Yijing ("Buch der Wandlungen").
Schriftzeichen Wu Jing, in der
Übersetzung etwa "Die Fünf Klassiker"
Der Kern des Yijing - dem wohl bekanntesten
chinesischen Buch überhaupt - besteht aus einem graphisch-numerologischen
System, auf dessen Basis der Ratsuchende Antwort auf seine Fragen finden
kann. Als Grundidee verbirgt sich hinter der Oberfläche des Orakels
die Dynamik von in steter Wandlung begriffenen 64 archetypischen Situationen,
die durch Sechser-Strichgruppen, die sogenannten "Hexagramme",
repräsentiert werden.
Ein Hexagramm ist aus zwei Dreier-Strichgruppen, den Triagrammen, zusammengesetzt.
Ein spezielles Losverfahren ermittelte als Antwort auf die Orakelfrage
eines der 64 Hexagramme. Da im Yijing nicht nur jedes Hexagramm
durch einen speziellen Kommentar versehen ist, sondern zusätzlich
jede einzelne Linie des Hexagramms, ergeben sich 64x6=384 Sprüche.
Schriftzeichen Yijing, in der
Übersetzung etwa "Buch der Wandlungen"
Das Yijing zeichnet sich in seinen
Antworten durch eine gewisse Rätselhaftigkeit aus, die es dem Fragenden
erlaubt, seine Zukunft nicht etwa als feststehendes Schicksal zu begreifen,
sondern bestimmte Entwicklungstendenzen wahrzunehmen. Das Reflektieren
über diese Hinweise mag bei entsprechender geistiger Offenheit zu
neuen Ideen und Inspirationen führen.
Nicht nur für die Konfuzianer war das Yijing von großer
Bedeutung, auch alle anderen philosophischen Schulen bezogen sich in ihren
Schriften direkt oder indirekt auf das "Buch der Wandlungen".
Der Philosoph Mo Di und seine Nachfolger
Mo Di (479-381) war ein radikaler Gegner des Konfuzius und stellte dem
konfuzianischen Ideal der gewissermaßen aristokratischen "Menschlichkeit"
das der "allumfassenden Liebe" (Jian Ai) gegenüber.
Mo Di sah die im Konfuzianismus hierarchisch abgestufte Menschenliebe
als Pervertierung des ursprünglichen, auf alle Menschen gerichteten
Liebesgefühls an.
Schriftzeichen Jian Ai, in der
Übersetzung etwa "Allumfassende Liebe"
Das Jian Ai-Prinzip wird von Mo Di
allerdings utilitaristisch gedeutet, und somit fällt seine Begründung
der "allumfassenden Liebe" recht trocken aus: Sie ist nach Mo
Di nämlich die beste Grundlage des Zusammenlebens. Da das Nützlichkeitsdenken
überhaupt von großer Bedeutung in den Lehren des Mo Di ist,
steht der Begriff "Nutzen" (Li) auch in deren Zentrum.
Der Begriff Ai bezeichnet im Chinesischen nicht nur die "Liebe"
in der uns geläufigen Bedeutung, sondern auch "Liebe" im
Sinne von "sparsam" und "vorsichtig". Mo Di´s
Kritik am Krieg ist einerseits ethisch, andererseits utilitaristisch begründet,
d.h. er sieht den Krieg sowohl als moralisch verwerflich als auch ökonomisch
unsinnig an. Ähnliches gilt für seine Einschätzung des
Rituals. Hier kritisiert er allerdings insbesondere das Verschwenderische,
den sinnlosen Aufwand, mit dem Zeremonien und Rituale betrieben werden.
Schriftzeichen Li, in der
Übersetzung "Nutzen"
Die Lehren des Mo Di weisen eine übersichtliche
Strukturierung sowie eine relativ strenge Systematik auf, und seine Schule
war ebenfalls streng, beinahe militärisch organisiert. Mo Di lehnte
die aristokratischen Hierarchien des konfuzianischen Gesellschaftsideals
ab, also auch das überkommene Familienmodell im engeren Sinne. Deshalb
gründete die Struktur seiner Schule auf einem Kadersystem, mit einem
Leiter an der Spitze, der die Führungsfunktion ausübte.
Die Mitglieder dieser Schule wurden intensiv rhetorisch trainiert, um
die Verteidigung der Lehre im Disput sicherzustellen. Im Laufe eines Jahrhunderts
hatten die Mohisten durch umfangreiche Neuordnung und genaue Definition
wichtiger Begriffe, durch Präzisieren von Argumentation und Schlußfolgerung
eine nahezu hieb- und stichfeste Stellung ausgebaut, die logisch kaum
mehr angreifbar war.
Sie setzten sich eingehend mit der prinzipiellen Frage nach der Natur
des Verhältnisses zwischen Realität und Sprache auseinander,
eine Angelegenheit, die insbesondere durch die Struktur des Chinesischen
mit großen Schwierigkeiten verbunden ist. Die Mohisten erreichten
auf dem Gebiet der Logik ein hohes Niveau, aber damit standen sie in der
philiosophischen Landschaft Chinas allein.
Gründe für den letztlichen Untergang der Mo Di-Schule liegen
teilweise eben gerade hier: Die Struktur der chinesischen Sprache ließ
eine so strenge Logik, wie sie von den Mohisten entwickelt worden war,
nur unter größten Anstrengungen zu. Das Konzept der Logik Mo
Di´s fand nicht genügend Anhänger.
Allerdings war auch Mo Di´s Kritik am hierarchischen Familienmodell
nicht geeignet, um seine Schule dauerhaft im Denken der chinesischen Philosophen
zu verankern. Und schließlich wurde seine Lehre natürlich außerdem
von den Mächten bekämpft, die am Krieg profitierten.
Ausblick: Die stärksten Gegner des Konfuzianismus
Als der Lehre des Konfuzius diametral gegenüber stehende Geisteswelt
etablierte sich die Denkrichtung des Daoismus. Konfuzianismus und Daoismus
erscheinen in ihrer Grundstruktur so gegensätzlich , daß sie
häufig als Yang und Yin der chinesischen Philosophie
aufgefaßt wurden.
Im Zeitraum um Christi Geburt tauchte in China eine Lehre auf, die den
Hierarchiegedanken des Konfuzianismus in Frage stellte, eine Kraft, die
das chinesische Reich und seine geistige Welt grundlegend verändern
sollte, der Buddhismus.
Im zweiten Teil des Artikels wird es um die daoistischen Lehren des Zhuangzi
und des Laozi gehen, um die Konzepte des Dao, des Wu
Wei, des Yin und Yang, um das Auftauchen des Buddhismus
in China, seinen Höhepunkt und seine Verdrängung aus dem Reich
der Mitte.
Quellen
Einige der Autoren und Quellen, die ich für diesen Artikel recherchiert
und häufig rücksichtslos paraphrasiert habe sind: Chung-Yuan
Chang, Zen; Wolfgang Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie;
E.Fazzioli, Gemalte Wörter; K.Filipiak, Die chinesische
Kampfkunst; Jacques Gernet, Die chinesische Welt; Albert Low,
Wo bist Du, wenn ein Vogel singt?; T.Lowenstein, Buddhismus;
G.Menzies, Als China die Welt entdeckte; T.Merton, Tschuang-Tse
- Der Mann des Tao und andere Geschichten
Hinweis zu den abgebildeten Schriftzeichen:
In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat die chinesische
Regierung im Rahmen einer großen Alphabetisierungskampagne viele
traditionelle Zeichen vereinfacht, insbesondere sehr komplexe Zeichen
wurden durch reduzierte Varianten ersetzt. Diese sogenannten Kurzzeichen
Jiantizi werden in der Volksrepublik, Singapur und Malaysia benutzt,
während die alten Langzeichen Fantizi von Taiwan und Hongkong
verwendet werden. In den Illustrationen dieses Artikels werden Langzeichen
verwendet.
27.11.2005, Fortsetzung folgt
Artikel-Sammlung
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