Interview mit Martin Rätz,
Shifu der Long Wu Guan Kung Fu Schule

 

KFSB: In welchem Stadtbezirk unterrichten Sie?
M. Rätz: In Berlin-Hellersdorf.

KFSB: Welchen Kung Fu-Stil unterrichten Sie, und wie würden Sie diesen Stil charakterisieren?
M. Rätz: Ich unterrichte Chen Shi Taijiquan (dt.: Taiji-Faust der Familie Chen), Sanda "Chinesisches Kickboxen", Taiji-Selbstverteidigung, Taiji-Qigong und Jijian Sword-sparring (Schwertkampf)

Zum Chen Shi Taijiquan
Name: Chen Shi - ... der Familie Chen / Taijiquan - "Taiji-Faust" bzw. "Taiji-Kampfkunst" (taiji-quanshu)
Begründer: Chen Wangting (1600 - 1680)
Herkunft: Chenjiagou ("Graben der Chenfamilie"), Dorf (ehem. Rittergut) in der Provinz Henan, VR China


Schriftzeichen "Chen Shi Tai Ji Quan"

Charakteristika des Stils

Philosophie
- Taiji, "Die äußersten Extreme", "Die letzte Grenze", ist der Ursprung des Yin und Yang
- Taijiquan, die "Taiji-Faust", setzt die Yin-Yang-Philosophie in Bewegung um. Taijiquan, in seiner ursprünglichen Form (!), ist also sowohl weich als auch hart, sowohl langsam als auch schnell (alles jeweils im "Äußersten Extrem" (chin.: taiji); es ist sowohl eine "innere", als auch eine "äußere" Kampfkunst.
- Das Taiji entspringt dem Wuji, dem "Grenzenlosen". Dies entspricht sozusagen der Urknalltheorie in der modernen Physik. Durch Praktizieren von Taijiquan kann der Adept die Dualität (Teilung, d. h. innere und äußere Widersprüche) überwinden und zum ursprünglichen ungeteilten Wuji-Zustand zurückkehren. Dies entspricht der Bedeutung des lateinischen religio - Wiedervereinigung bzw. dem "Wurzelwiederfinden" des Laozi (Daodejing).
- Durch die Überwindung der Widersprüche zwischen dem "inneren und dem äußeren Menschen" (Meister Eckhardt 1260 - 1328) können Erkenntnise (wu) gewonnen und Erleuchtung (shenming) erreicht werden. Dies ist nach chinesischer Auffassung nur durch die Verbindung von rationaler und intuitiver Erkenntnis, also nicht auf rein intellektuellem Wege, sondern nur in der Verbindung mit körperlich-geistiger Selbstkultivierung zu erreichen.
- Der Chen-Stil ist religiös und weltanschaulich neutral. Voraussetzung für das Erlernen ist jedoch die Anerkennung und Bemühung um die persönliche Umsetzung des Ehrenkodexes der Chen (siehe unten).
- Die soziale Zielstellung des Chen-Stils formulierte Begründer Chen Wangting in einem kurz vor seinem Tod verfaßten Poem: die Heranbildung würdiger Mitglieder der menschlichen Gesellschaft.
- Das physio-mentale Training des Taijiquan in Verbindung mit der Philosophie setzt blockierte geistige und körperliche Anlagen frei. Dies führt zu einem verbesserten Lebensgefühl, Entfaltung der Kreativität und innerer Freiheit auf der einen und vermehrter äußerer Anpassungsfähigkeit aber zugleich auch erhöhter äußerer Widerstandsfähigkeit (z. B. Wetter, Unfälle, Angriffe) auf der anderen Seite.

Kampftechnik
- Der Chen-Stil stellt eine Synthese der Hauptrichtungen und Schulen des chinesischen Wushu (d. h. der Kriegskünste) dar, die zur Zeit seiner Entstehung ( 60'er Jahre des 17. Jh.) in höchster Blüte standen.
- Der Chen Stil umfaßt Techniken aus allen vier Kategorien der chinesischen Boxkunst (Quanshu): ti - Treten, da - Schlagen, - shuai - Ringen (Werfen / Fallen), na - Greifen (Hebel). Diese sind verbunden mit der Jingluo-Theorie (Meridiane, Akupunkturpunkte). Dabei wird auf vitale Punkte (Xue) mittels Druck (oder auch mental) eingewirkt.
- Die eigenen körperlich-geistigen Kräfte werden durch Techniken des tuna (Tiefenatmung) und des daoyin (Konzentration und Lenkung der inneren Energie) wesentlich verstärkt. Dies führt auch zu einer Verbesserung der Gesundheit. Im modernen China werden solche Techniken heute als Qigong bezeichnet.

Aufbau des Systems
- Taolu - "Übungswege": Yilu, Erster Weg, und Erlu, Zweiter Weg, auch genannt Pao Chui ("Kanonen-Faust"). Ein Weg besteht aus festen, unbeweglichen Stellungen (Shi), die durch Bewegungen miteinander verbunden sind (Yin / Yang: Ruhe - Bewegung). Im Gegensatz zu anderen Kung Fu-Stilen sind die Stellungen bei der Ausführung der Formen nicht mehr als solche erkennbar.

Wie in der Kalligraphie wird bei einem Endpunkt nicht mehr abgesetzt, sondern eine Bewegung mit der nächsten vermittels einer Schleife verbunden. Dies führt in Europa zu Mißverständnissen, wie: "Taiji ist Meditation in der Bewegung". Die korrekte Ausführung einer Stellung erfordert beim Anfänger höchste geistige und körperliche Anstrengung und ruft Muskelschmerzen hervor, weswegen beim allgemein verbreiteten "öffentlichen" Taijiquan Vereinfachungen vorgenommen wurden. Der Erste Weg besteht aus langsam ausgeführten Bewegungen, die in schnelle und harte Energieentladungen münden. Beim Zweiten Weg, der "Kanonenfaust", folgen jeweils mehrere explosive Bewegungen hintereinander.

- Anmerkung: Die anderen, Taiji-Stile (Yang, Wu, Wu/Hao, Sun) und das moderne Taijiquan-Yundong (z.B. 24'er "Peking-Form") leiten sich von der Yilu, dem Ersten Weg, des Chen-Stiles her. Explosive, harte Bewegungen (fajin), Stampfen und Sprünge wurden bis auf wenige Ausnahmen (Alter Yang-Stil) eleminiert.

- Tuishou - "Schiebende bzw. stoßende Hände" (engl.: Push Hands): -spezielle Partner-Übungsform des Chen-Stiles, vergleichbar etwa mit dem Chi-Sao ("Klebende Hände) beim Wing Tsun/Chun. Taolu entwickelt das Gefühl für die eigene Technik, Tuishou das Gefühl für den Partner. Die Acht Armhaltungen und Fünf Schrittarten (sanshi shi - 13 Stellungen), sprich: Anwendungen der Schläge, Hebel, Würfe werden durch das Tuishou automatisiert.

Die Fähigkeiten des intuitiven Erfühlens (ting), Interpetierens (dong) und Neutralisierens (hua) der gegnerischen Angriffsenergie (jin) und die Fähigkeit, die eigene Energie explosiv einzusetzen (fa jin) wird entwickelt. Tuishou wird auch als eigenständiger Wettkampfsport ausgeübt. Die Zweikämpfe finden auf einer Plattform statt und ähneln dem japanischen Sumo. Mit diesem besteht sogar über die chinesische Urform, das Xiangpu, eine jahrtausendealte Verwandtschaft. Tuishou ist allerdings weitaus komplizierter als Sumo und man braucht Technik statt Kraft und Masse.

- Sanshou - Der Freikampf: Tuishou ist die Vorstufe zum Sanshou. San bedeutet: "sich voneinander lösen", während man beim Tuishou noch auf Armabstand zusammen steht. Der eigentliche reale Kampf, das Sanshou, ist Ziel und Zweck einer traditionellen Kung Fu-Ausbildung. Dabei ist "Kampf" als defensive Maßnahme zum Schutz gegen feindliche Übergriffe zu verstehen. Heutzutage, insbesondere in Europa, werden jedoch die vorbereitenden Maßnahmen, welche zur Ausbildung des "Kriegers" und zum Erhalt seiner Gesundheit und Kampfkraft dienen i. d. R. mit der eigentlichen Kriegskunst (Wushu) bzw. Kampfkunst (Quanshu) verwechselt. Die Kampfkunst im engeren, eigentlichen Sinne besteht im Gebrauch der technisch-taktischen Elemente im Kampf. Dies ist wichtig zu wissen, für Personen, die eine Kampfkunst zum Zwecke der Selbstverteidigung oder aus beruflichen Gründen (Polizisten; Soldaten, Wachleute und Personenschützer) erlernen wollen.

- Waffenformen: Der Chen-Stil enthält eine große Auswahl traditioneller Waffenformen, wie Schwert, Speer und Hellebarde. Diese können außerhalb des obligatorischen Unterrichts auf speziellen Work-Shops erlernt werden.

- Taiji-Qigong: Schüler, die den Chen-Stil aus rein gesundheitlichen Gründen oder als Ausgleich und Entspannung erlernen wollen, können die Formen in vereinfachter Ausführung unter Betonung des energetischen Aspektes (Qi) erlernen. Das Qigong des Chen-Stiles ist aber auch die Voraussetzung zum effektiven Einsatz der Techniken im Kampf. Taijiquan ist an sich schon eine eigenständige Form des Qigong, weshalb die heute (allerdings nicht im Mutterland China!) verbreitete Kombination "Taijiquan & Qigong" etwa so sinnvoll ist, wie "Mercedes & Auto".

- Sanda - Das "Chinesische Kickboxen" ist die moderne sportliche Form des Sanshou. Ebenso wie beim Taiji-Sanshou haben auch die anderen Kung Fu-Stile (eigentlich: Wushu-Stile) ihre Art frei zu kämpfen (Sanshou). Daraus wurde unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten ein stilübergreifendes System entwickelt. Es besteht aus wenigen, leicht zu erlernenden Grundtechniken ( "Fünf Schläge, Fünf Tritte", fünf Kategorien von Würfen und 6 Schrittarten), die aus einer einzigen Kampfstellung heraus ausgeführt werden. Die Wirksamkeit beruht auf den vielfältigen Kombinations- und Variationsmöglichkeiten. Sanda ist ideal für die Jugend, kann aber auch im Alter weiterbetrieben werden. Im Sanda gibt es ebenfalls wie im Tuishou nationale und internationale Wettkämpfe.

- Taiji-Selbstverteidigung (Taiji Ziwei Shu): Hierbei handelt es sich um einen an unserer Schule entwickelten Komplex stilübergreifender Kampfanwendungen in speziellen Selbstverteidigungssituationen. Taijiquan selbst ist keine reine "Selbstverteidigung", sondern eine komplexe "Kriegskunst", die früher auf dem Schlachtfeld angewendet wurde. Aus den sehr umfangreichen Übungskomplexen des Chen-Stiles mußte also eine einfach zu erlernende und sicher anwendbare Auswahl getroffen werden. Diese Techniken mußten zu den heute allgemein verbreiteten Kampftechniken, die vor allem aus Judo, Jiu-Jitsu, Karate, Aikido und in den letzten Jahren auch aus chinesischen Stilen, vor allem Wing Tsun (bzw. Wing Chun), sowie Kickboxen, Muhai Thai und militärischem Nahkampf stammen kompatibel sein.

Insbesondere unsere Schüler von der Polizei brauchten Techniken, die den Gegner schonen. Der Chen-Stil erwies sich als die ideale Grundlage für die Entwicklung einer effektiven Kunst der Selbstverteidigung. Die Kenntnisse anderer Stile sowohl von meinen chinesischen Meistern, einiger Schüler als auch mein jahrelanges Judo-, Karate, Aikido- sowie Wushu- und Sanda-Training, auch meine Ausbildung während des Wehrdienstes bei der Bereitschaftspolizei erwiesen sich als sehr hilfreich. Taiji-Selbstverteidigung erhebt nicht den Anspruch, ein neues System darzustellen. Vielmehr ist es eine andere Art traditionelle Techniken einfach und effektiv einzusetzen.

KFSB: Welche Voraussetzungen sollte ein Schüler der bei Ihnen beginnen möchte mitbringen?
M.Rätz: Höflichkeit, Bescheidenheit, Teamfähigkeit, Leistungsbereitschaft, Zuverlässigkeit, Disziplin. Technische oder besondere körperliche Voraussetzungen sind nicht erforderlich. Wer eine Wettkampfkarriere anstrebt, sollte gute allgemeine körperliche und geistige Anlagen besitzen.

KFSB: Wie verläuft die Kung Fu-Ausbildung an Ihrer Schule?
M.Rätz: Individuell, altersgerecht und je nach Interesse und persönlicher Zielstellung. Kinder und Jugendliche erhalten eine Ausbildung, die in erster Linie auf die Entwicklung der körperlichen Anlagen gerichtet ist, wobei gleichzeitig Wertvorstellungen des Wude, der Ethik und Moral des Kriegers, herausgebildet werden. Die Technik besteht aus Sanda, Tuishou und Einführung in die klassischen Formen des Chen-Stiles. Schwerpunkt sind Basistechniken (jiben gong), wozu auch Fallschule und einfache Akrobatik zählt.

Erwachsene lernen mehr Technik und traditionelle Formen. Die Ausbildungszeit bis zum ersten Meistergrad beträgt ca. 6 Jahre, mit externem Studium in China oder/ und Intensivausbildung ca. 4 Jahre.

Wettkampfreife Sanda, ca. 1 - 2 Jahre (Amateure), Semi-Profi ca. 4 Jahre, Profi-Ausbildung in Verbindung mit externem Studium in China Selbstverteidigung Grundstufe ½ Jahr.

KFSB: Wie lang ist eine Trainingseinheit und wie verläuft das Training?
M. Rätz: Eine Trainingseinheit umfaßt in der Regel 90 Minuten. Allgemeiner Ablauf:
1. Erwärmung, bestehend aus: allgemeinem Herz-Kreislauf-Training, Krafttraining, Dehnung und Stretching sowie Wushu-spezifischen Übungsformen, Fallschule
2. Formen-Training (Taiji-Formen, Sanda-Solotechniken)
3. Partner-Übungen
4. Kampf-Training

Der allgemeine Ablauf wird bei den Erwachsenen und älteren Jugendlichen in Abständen ersetzt, durch thematische Arbeit. Erwärmung und vorbereitende Übungen, wie Dehnung können durch direkte Arbeit an den Formen und Partnerübungen ersetzt werden, indem deren Intensität nach und nach gesteigert wird. Dadurch wird nicht nur Zeit für umfangreichere Übungskomplexe gewonnen. Im Selbstverteidigungsfall kann man sich auch nicht erst warmmachen und dehnen. Manchmal kommt man auch vor Wettkämpfen nicht richtig dazu. In dem Fall muß allein die geistige Bereitschaft den Körper aktivieren. Desweiteren können nach einer harten Erwärmung feine Bewegungsabläufe sowie bestimmte Qigong-Techniken nicht mehr trainiert werden. Der Trainingsablauf wird deshalb dem Ziel der Stunde (z.B. Messerabwehr, heilende Hände, Eisenhemd, neuer Tuishou-Komplex, Taktik des Zweikampfes, Grundausbildung) untergeordnet.

KFSB: Wie oft kann man bei Ihnen pro Woche trainieren?
M.Rätz: 2 mal 90 Minuten und ein Freitraining. Wer mehr will, kann zwei Kurse belegen.

KFSB: Spielen in Ihrem Unterricht andere traditionelle Elemente/ Künste wie z.B. Löwentanz eine Rolle?
M.Rätz: Nicht direkt, da wir uns auf das Wesentliche, die Kampfkunst, orientieren. Chinesische Kalligraphie wird ggf. kurz zum Vergleich herangezogen. Traditionelle chinesische Musik aber auch keltische Musik und moderne Gattungen werden direkt zur Unterstützung der Ausbildung des Rhythmusgefühls bei den Übungen herangezogen. Beziehungen zur klassischen chinesischen Philosophie und zur Theorie der Kampfkünste, insbesondere des Taijiquan werden bei der Vermittlung der Formen und Partnerübungen erläutert. Die Schüler erhalten die Möglichkeit traditionelle Elemente der chinesischen Kultur, z. B. Teezeremonie, auf seperaten Veranstaltungen kennenzulernen. Ich möchte dazu besonders auf die Aktivitäten meines Kollegen und Shidi ("jüngerer Kung Fu-Bruder") Shifu Mario Pestel von Chen-Taiji Berlin hinweisen.
Am besten lernt man die chinesische Kultur natürlich auf unseren regelmäßigen Trainingsreisen nach China kennen. Einmal im Jahr findet auch ein speziell für uns vorbereitetes traditionelles chinesisches Essen im "Happy Family" statt. Das ist wirklich ein kulturelles Erlebnis. Um die chinesische Kultur und das Wushu im Besonderen besser zu verstehen, befassen wir uns vor allem auch mit der chinesischen Sprache und Schrift.

KFSB: Welchen Stellenwert besitzen Formen in Ihrem Unterricht?
M.Rätz: Taolu bedeutet "Übungsweg; äußere Form"; die Bezeichnung "Form" kommt von einer inkorrekten Übersetzung des Wortes shi - Stellung (Körperhaltung) - in das Englische. Das Wort "Formen" hat sich jedoch bereits eingebürgert.

Taolu-Training ist sehr wichtig. Eine Lu ist ein "in Körpersprache geschriebenes Lehrbuch", um einen Ausdruck aus dem Aikido zu benutzen. Die Chinesen sagen: "Alles kommt von der Form." Formen sind gleichzeitig eine sehr effektive Form des physio-mentalen Trainings. Allerdings ist die Form wegen des Inhalts da. Wenn der Inhalt, das Wesentliche, erfaßt wurde, kann man auf die äußeren Formen verzichten. Die Chinesen sagen: "Laßt uns die Fische behalten und das Netz vergessen." Wenn wir unser Ziel, die Überquerung eines Wassers erreicht haben, können wir das Boot zurücklassen.

Oft verselbständigen sich die Formen jedoch vom bloßen Mittel zum eigentlichen Zweck. Viele glauben, wenn sie ihre Form irgendwann gut genug beherrschen, können sie auch gut kämpfen. Das ist Unsinn. Man kann aber besser kämpfen, wenn man seine Form gut beherrscht. Das Sunzi Bingfa (Kriegskunst) lehrt, daß eine (scheinbar) formlose Kriegskunst klar erkennbaren Formen überlegen ist. Bruce Lee bezeichnete die Formen als: "systematisierte Akte der Verzweiflung". Da ist was dran.

Man sollte wissen, daß die wenigsten Formen, die heute verbreitet sind, noch über irgend einen wirklichen Inhalt verfügen. Gesetzt der Fall, der chinesische Lehrer kennt den Inhalt wirklich noch (das ist bei vielen echten Nachkommen traditioneller Stile zum Glück der Fall), wird er ihn nur an ausgesuchte Schüler (Tudi) weitergeben.

KFSB: Welche Rolle spielen Beintechniken (Fußschläge) in Ihrem Training?
M.Rätz: Man unterscheidet, wie bei den Handtechniken die Beintechnik (tuifa) in Schläge (kreisförmig) und Stöße (gerade). Aufgrund der Entwicklung im modernen Wettkampfsport wird die Bedeutung von Fußtechniken heutzutage überschätzt. Selbst traditionelles nordchinesisches Shaolin-Gongfu enthält in den Taolu etwa nur ein Drittel bis ein Viertel Fußtechniken. Betrachten wir die klassische Einteilung ti - da, shuai - na (Tritte - Schläge, Würfe - Griffe) nehmen die Fußtechniken ein Viertel der Techniken ein. Dieses Viertel ist allerdings ebensosehr wichtig, wie die anderen drei Viertel.

Eine (nordchinesisch orientierte) Anfängerausbildung beginnt immer mit der Ausbildung der Stellungen, Schritte und Tritte um ein festes Fundament im unteren Körperbereich bei gleichzeitig hoher Beweglichkeit zu erreichen. Große Meister brauchen kaum noch Tritte einzusetzen. Wenn man auch selbst weniger Tritte anwenden möchte, z.B. weil sie als Selbstverteidigung nicht effektiv sind, müssen die Schüler alle Tritte lernen. Wie soll man lernen, sich gegen Tritte zu verteidigen, wenn der Trainingspartner (wie z.B. viele Aikidoka) keine beherrscht? Trittechnik, und diese ist ohne Meditation und Dehnungsübungen undenkbar, besitzt auch einen hohen gesundheitlichen und körperbildenden Wert. In meinem Training spielt die Erarbeitung sämtlicher Wushu-Beintechniken deshalb eine wichtige Rolle. Ob der Schüler ein Fußtechniker oder ein Handtechniker wird, hängt von seinen Anlagen ab.

KFSB: Welche Rolle spielt der Freikampf in Ihrem Unterricht?
M.Rätz: Freikampf - Sanshou - muß unterschieden werden, nach seinem Anwendungszweck: sportlicher Wettkampf (Sanda), Selbstverteidigung, militärischer Nahkampf und polizeiliche Zugriffstechniken sowie traditioneller Zweikampf (Duell). Natürlich überschneiden sich viele Bereiche. Es liegt beim Schüler, was er lernen möchte oder ob er die Kampfkunst nur in ihrer Vorbereitungsstufe, z.B. aus gesundheitlichen Gründen oder als körperlich-geistigen Ausgleich erlernen möchte. Man sollte aber wissen, daß man auch in diesem Fall sein Ziel besser und schneller erreicht, wenn man Anwendungen mit dem Partner trainiert. Es muß ja nicht immer bis zum Vollkontakt gehen. In einfacher und entspannter Form sind Partnerübungen auch eine Form des sozialen Lernens. Wenn man das Miteinander nicht lernt, wird man nie gut im Gegeneinander. Daran scheitern i.d.R. alle Anfänger, die bloß kommen um sich zu kloppen.

Traditionelle Meister und Methodiker des modernen Boxens warnen davor, zu früh seine Kräfte im Zweikampf zu messen. Angst und Verkrampfung ist die Folge, was wiederum in Brutalität mündet. Beim Freikampf herrscht auch ein erhöhtes Verletzungsrisiko. Da Freikampf also ein heißes Eisen ist, fassen es viele "Lehrer" der Kampfkünste lieber gar nicht erst an (machen aber dafür gern große Versprechungen für die Zukunft, wie gut man kämpfen kann, wenn man ihren Stil nur lange genug trainiert).

Der reale Kampf ist Sinn und Zweck einer Kampfkunst, wenn sie diesen Namen verdienen will. Gleichzeitig ist das physio-mentale Training der Kampftechniken die Grundlage für das Erreichen höherer geistiger Ebenen ebenso, wie es die Gesundheit stärkt. Wir können die körperliche und technischen Ausbildung sowie die Gesundheitspflege der Grundstufe zuordnen, die taktische Ausbildung und den eigentlichen Kampf der Mittelstufe und die philosophische Ebene bildet sowohl die Oberstufe wie sie auch gleichzeitig die theoretische Ausgangsbasis darstellt.

Für mich stellt der Kampf "das Kriterium der Wahrheit" dar. Ich kenne mehrere wirklich hochrangige chinesische Meister des Wushu. Obwohl alle äußerst friedliebende, bescheidene Menschen mit einer hohen Philosophie und Moral sind, ist unter ihnen keiner, der nicht ausgezeichnet kämpfen kann. Der Kampf ist gleichzeitig eine Form der Meditation. Die Gefahr bewirkt eine gesteigerte Konzentration, wobei sich pathologische Spannungen im Hirn abbauen und was eine tiefe Entspannung bewirkt. Während eines Kampfes sind ständig neue Strategien zu entwickeln und blitzschnelle Entscheidungen zu treffen. Man muß auch vieles lernen und sein Wissen ständig erweitern. So bleibt nicht nur der Körper, sondern auch der Geist fit.

Die Frage, welche Rolle der Freikampf in meinem Unterricht spielt, verwundert mich ebenso, als wenn jemand fragen würde, welche Rolle denn das Fahren in einer Fahrschule spiele. So wie eine Fahrschule das Fahren und eine Malschule das Malen lehrt, lehrt meine Kampfkunstschule das Kämpfen.

KFSB: Wird bei Ihnen auf SV-Anwendungen (Selbstverteidigung) eingegangen?
M.Rätz: Als Kampfkunstlehrer trägt man eine sehr hohe Verantwortung für das Leben und die Gesundheit seiner Schüler. Das Training selbst soll die Gesundheit stärken und nicht, wie bei einigen Stilen zu bleibenden Sportschäden (z. B. kaputte Gelenke) führen. Das Ergebnis des Trainings muß aber in jedem Fall darin bestehen, daß der Schüler sich im Ernstfall selbst verteidigen kann. Kann er das nicht, ist sein Lehrer mit schuld an seinen Verletzungen oder seinem Tod.
Manchen Lehrern geht es ausschließlich nur um Ruhm bei Wettkämpfen. Die Schüler zahlen dafür den Preis mit Sportschäden und können sich mit ihren reinen Sportkampftechniken in einem Straßenkampf nicht behaupten. Man muß daher den Schülern reinen Wein einschenken. Das was man trainiert, wird man auch können und das was man nicht trainiert wird man nicht können. Man darf auch nicht mit dem "Selbstverteidigungsaspekt" werben und im Unterricht ständig beteuern, wie gut diese oder jene Technik für die Selbstverteidigung sei, wenn man in Wirklichkeit nur Gesundheitsgymnastik oder "Dojo-Ballett" unterrichtet. Bei mir wir also nicht auf die Selbstverteidigung eingegangen, sondern es wird Selbstverteidigung unterrichtet.

KFSB: Spielt Akrobatik im Unterricht eine Rolle, muß man sehr fit und beweglich sein?
M.Rätz: Kinder und Jugendliche sowie jüngere Erwachsene können noch Salto und Überschläge lernen. Das ist gut für die Entwicklung des Körpergefühls und läßt sich, allerdings nur bei sehr guter Beherrschung, auch in Extremsituationen, also auch in realen Kämpfen äußerst selten, anwenden. Vor allem macht es aber Spaß und sollte deshalb nicht im Unterricht fehlen. Gerade durch akrobatische Übungen wird man fit und gelenkig. Auch wenn man im Kampf keine Akrobatik anwendet trägt sie zur körperlichen Überlegenheit bei.

KFSB: Finden auch Wettkämpfe statt?
M.Rätz: Ja, auf nationaler und internationaler Ebene im Sanda, Tuishou und Taiji-Formen sowie im Sword-Sparring.

KFSB: Gibt es ein Angebot für Kinder?
M.Rätz: Ja, empfohlenes Anfangsalter ist 8 Jahre.

KFSB: Werden Waffentechniken unterrichtet?
M.Rätz: Im regulären Unterricht Techniken mit Lang- und Kurzstock, Messer; für Interessierte: Soft-Nunchaku, Tonfa; auf seperaten Kursen Taiji-Waffen, Sword-Sparring mit Soft-Schwertern.

Einige Techniken mit dem Langstock gehören zur Grundausbildung im Chen-Stil. Dabei wird der Stock nicht als Waffe, sondern als Trainingsgerät benutzt.

KFSB: Spielt geistige Übung (z.B. Meditation) in Ihrem Unterricht eine Rolle?
M.Rätz: Wushu beruht auf Meditation. Die Formen, egal ob Taiji oder andere sind selbst eine Form der Meditation. Sitzende, stehende oder liegende Meditation bzw. Qigong (überschneidet sich) wird aber auch, je nach Bedarf, als vorbereitende Übung mit eingesetzt.


Ergänzungen:

Lehrer: Shifu Martin Rätz
Qualifikation: 3. Duan (Dan) Wushu
Zertifiziert durch: Chinese Wushu Association, Peking, Zertifikat Nr.: 20040022 / 249741727
Ausgebildet durch: Shifu Alexander Liu (Liu Zhuoyu) - Wushu, Shifu Cheng Lijun, 6. Duan Wushu - Chen Shi Taijiquan
Betreibt Kampfkunst (Judo, Karate, Aikido, Wushu) seit 1974, unterrichtet seit 1993.


Anhang:

Der Ehrenkodex der Chen

Die in der Chen-Familie überlieferten 12 Gebote und 20 Verbote gehen auf alte daoistische, konfuzianische und buddhistische Lebensweisheiten, soziale Normen und Klosterregeln zurück. Sie dienen als Richtschnur für die persönliche charakterliche Entwicklung, stellen jedoch keine Dogmen dar, die die freie Entscheidung über die eigene Lebensführung behindern.

Die 12 Gebote (oder wörtlich: Anforderungen an den Charakter) sind:

1. chéng Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit
2. xìn Vertrauenswürdigkeit und Zuverlässigkeit
3. gông Gerechtigkeit und Unparteilichkeit
4. dé Sittlichkeit und Moral, Tugendhaftigkeit
5. rén Menschlichkeit, Güte und Wohlwollen
6. yì Rechtschaffenheit, rechtes Handeln
7. zhông Treue, Loyalität
8. yông Mut und Tapferkeit
9. duân Würde und Anstand
10. zhèng aufrechte und geradlinige Haltung
11. hào edle Gesinnung
12. jìng Achtung und Respekt (vor Lehrern und Älteren)

Die 20 Verbote sind:

1. eigene Überlegenheit nicht zu benutzen, um andere zu demütigen und zu schikanieren
2. nicht vor Stärkeren Angst haben und sich an Schwächeren auslassen
3. in der Gefahr keine Angst haben, sondern anderen beistehen
4. keine Schlechtigkeiten begehen
5. Kung Fu-Techniken niemals benutzen, um Sex zu erzwingen
6. nicht hochmütig werden, wenn man Macht erlangt
7. sein Kung Fu nicht als Ware feilbieten
8. keine Cliquen oder Banden gründen
9. sich nicht herumtreiben und übertriebenen Ausschweifungen hingeben 10. sich nicht anmaßend und arrogant verhalten
11. sich nicht von Irregeleiteten zu einem Kampf provozieren lassen
12. nicht mit Dummen herumstreiten
13. sich nicht bei seinen Vorgesetzten einschmeicheln und auf den Untergebenen herumtrampeln
14. sich nicht auf unrechte Weise bereichern
15. sich nicht abhängig machen von Alkohol und Sex (in unserer Zeit gilt auch: Keine Drogen!)
16. seine privaten und gesellschaftlichen Verpflichtungen erfüllen
17. anderen und der Gesellschaft keinen Schaden zufügen
18. nicht aus egoistischen Gründen nach Ämtern und hohen Gehältern streben
19. niemals ein solcher Schuft zu sein, der sein Vaterland verrät
20. keine Zeit verschwenden, die man zum Üben nutzen kann

Nach Großmeister Chen Zhenglei, 19. Generation Chen Familienstil, Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung durch Großmeister Chen Zhenglei, Übersetzung aus dem Chinesischen und Einführung Martin Rätz, mit freundlicher Unterstützung von Chen Weichun und Wan Shuqing