Theorie und Praxis des Wudang Bajiquan

Interview mit Ismet Himmet,
Hauptlehrer des Wudang Pai Systems in Deutschland/
Leiter der Akademie der Kampfkünste in Berlin

 

von Thorre Schlaméus
Berlin, Oktober 2009

 

Ich habe das Glück, seit etwa zwei Jahren Wudang-Bajiquan bei Ismet Himmet in der Akademie der Kampfkünste Berlin üben zu können. In dieser Zeit lernte ich Ismet als ebenso kompetenten wie verständnisvollen Lehrer kennen und schätze seinen Unterricht sehr. Ich habe erfahren, wie das Kampfkunsttraining in einer Neijia-Schule abläuft, und obwohl ich mich seit langem in verschiedenen Waijia-Kampfkünsten übe, waren einige Methoden dieses Trainings neu und ungewohnt für mich.

Manche Stile der chinesischen Kampfkunst sind in Deutschland relativ bekannt, wie beispielsweise das Shaolinquan oder das Taijiquan. Von anderen Kampfsystemen wie dem Xingyiquan oder dem Bajiquan hat man dagegen bisher nur wenig gehört und gelesen. Aus diesem Grund kam mir die Idee, mit Ismet ein Gespräch über Theorie und Praxis des Bajiquan für die KFSB-Website zu führen.

Im Verlauf dieses Gesprächs erläuterte Ismet viele interessante Details und Hintergründe der Baji-Kampfkunst, und so hoffe ich, daß die Leser unserer Website das folgende Interview aufschlußreich finden werden.

 

Thorre: Ismet, du unterrichtest in deiner Schule neben Taijiquan, Baguazhang und Xingyiquan auch Bajiquan. Woher stammt dieses Kampfsystem, weiß man etwas über seinen historischen Hintergrund?


Ismet: Beginnen wir das Interview doch mit einem in den chinesischen Kampfkunstkreisen bekannten Spruch: Wen You Tai Ji An Tian Xia, Wu You Ba Ji Ding Qian Kun! Das Taijiquan ist da, um Frieden unter dem Himmel zu wahren, das Bajiquan ist da, um Himmel und Erde zu kontrollieren!


Die chinesischen Schriftzeichen für
Wen You Tai Ji An Tian Xia, Wu You Ba Ji Ding Qian Kun


Diese erste Frage will ich aus zwei Blickpunkten beantworten, zunächst aus der Sicht aus der Wudang-Linie und dann aus der allgemeinen historischen Sicht in China.

Nach unserer Lehre war das Bajiquan, was man als Acht Extreme Boxen übersetzen kann, vormals als Baziquan bekannt, welches soviel bedeutet wie Acht Zeichen Boxen. Diese acht Zeichen spiegelten lediglich acht Fähigkeiten in der alten Wudang-Lehre wider:

1. Zhan (Öffnen)
2. Jie (Zuvorkommen)
3. Guo (Umhüllen)
4. Kuo (Hüfteinsatz)
5. Tiao (auch Qiao)(Brückenarme - Springende Arme)
6. Yun (Wolkenarme)
7. Ding (Stützende Energie)
8. Ling (Wandelbarkeit)

Diese finden sich heute auch in anderen Inneren Künsten wieder, wie beispielsweise beim Xingyiquan oder dem Tai Yi Zhang. Ein daoistischer Wanderpriester aus den Wudang-Bergen, sie nannten ihn Lai Dao Shi, also Verrückter Daoist, soll diese Baziquan-Kunst im siebzehnten Jahrhundert an Wu Zhong aus Hebei weitergegeben haben. Wu Zhong, der keinen Sohn hatte, gab es an seine Tochter Wu Rong weiter und sie an ihren Mann Dai. Diese Familie soll ins Dorf Meng in Hebei gezogen sein, wo bis zum heutigen Tage diese Kunst in der moslemischen Tradition weitergegeben wird.

 

Ismet Himmet bei der Korrektur
während des Bajiquan-Unterrichts


In der Familie Wu wurden für die acht Fähigkeiten verschiedene Basis-Übungen entwickelt. Später in der dritten Generation kam der Name Ba Ji (Acht Pole bzw. Acht Extreme) immer mehr in den Vordergrund. Diese acht Pole spiegelten einerseits die acht Richtungen wider, welche in der ersten Form Xiao Jia betont werden, aber auch die acht Körperteile, die im Kampf eingesetzt werden, nämlich Kopf, Schulter, Ellenbogen, Hand, unterer Rückenbereich, Hüfte, Knie und Füße.


 


Ismet Himmet bei der Demonstration
der Xiao Jia Form des Wudang-Bajiquan


Aus der Sicht der Kampfkunsthistoriker der VR China trifft diese Version die historische Wahrheit, mit der Einschränkung, daß derjenige, der das heutige Bajiquan an Wu Zhong weitergab, ihrer Ansicht nach nicht bekannt ist. Wer dieser Mann war, dazu existieren drei mögliche Theorien.

Erstens könnte er ein verrückter Wander-Daoist ohne Ordensbenennung gewesen sein. Zweitens könnte es sich um Qi Ji Guang gehandelt haben, einen General aus der Ming-Dynastie, der verschiedene Kampfkünste entwickelt haben soll. Drittens wäre es möglich, daß dieser Mann ein Abt der Nord-Shaolin-Schule war, bei dem diese Kunst Kan Shan Quan hieß, was Schutz des Berges Faust bedeutet.

 

Thorre: Wie kommt es, daß Bajiquan oft als Bodyguard-System bezeichnet wird? Haben Wachen und Leibwächter dieses Kampfsystem tatsächlich trainiert und angewendet?


Ismet: Spätestens mit dem erscheinen des Li Shu Wen (1864-1934), dem exzellenten Bajiquan-Kämpfer aus Cangzhou, den man auch Gott-Hand Li und Speer-Gott Li nannte, wurde das Baji-System im gesamten China bekannt.

Pu Yi, der letzte chinesische Kaiser soll ihn mit zwei japanischen Schwertkämpfern zu einem Meeting gerufen haben, bei dem über die Ausbildung der Leibgarde entschieden werden sollte. Als Li Shu Wen jedoch die beiden Schwertkämpfer sah, soll er dem Kaiser direkt gesagt haben: "Die beiden sind nicht gut und haben keine Basis!" Darauf hin forderten die Schwertkämpfer Li Shu Wen zum Kampf, bei dem einer der Schwertkämpfer starb und der andere schwerste Verletzungen an der Schulter erlitt. Li Shu Wen nutzte bei diesem Kampf keine Waffe.

 

Foto von Li Shu Wen


Der unversehrte Li Shu Wen soll dann allerdings vom Kaiser weggeschickt worden sein, da dieser Zwischenfall politische Folgen haben würde. Li Shu Wen´s erster Jünger, Huo Dian Ge, jedoch hat schließlich unter Pu Yi als Leibgarden-Ausbilder gedient. Nach ihm haben Li Shu Wen´s letzte Schüler und Schülers-Schüler unter Mao Ze Dong und Chiang Kai Shek stets die Ausbildung der Leibgarde geleitet. Die bekanntesten unter ihnen waren Liu Yun Qiao und Li Chen Wu.

 

Thorre: Weiß man etwas darüber, wie aus Li Shu Wen ein so großer Baji-Kämpfer wurde? Hatte er spezielle Trainingsmethoden? Worin bestehen die klassischen Trainingsprinzipien des Bajiquan?

Ismet: Die Trainingsmethoden von Li Shu Wen sind in ganz China bekannt. Noch als Teenager schickte sein Vater ihn zu Huang Si Hai, einem Gongfu-Meister mehrerer Stile, der aber hauptsächlich Bajiquan unterrichtete.

Li Shu Wen´s Familie war sehr arm, und die Familienmitglieder waren als Farmer tätig. Li Shu Wen half seiner Familie. Er legte täglich etwa zwölf Kilometer zurück, um zur Arbeit zu kommen.

Seine einzige freie Zeit hatte er auf dem Weg zur Arbeit. Dabei übte er die erste und zweite Faust, also die ersten beiden Grundübungen aus dem Neun-Fäuste-System des Bajiquan. Tag für Tag ging er also sechs Kilometer zur Arbeit hin und sechs Kilometer zurück mit den Grundschritten.

Zur Erntezeit mußte er immer nachts losgehen, damit er rechtzeitig ankam. Die Arbeit als Farmer in der Erntezeit ging dann auch bis in die Abendstunden. Trotz dieses Umstandes unterließ er nicht einen Tag seine Zwölf-Kilometer-Neun-Fäuste-Übung.

 

Bajiquan-Schüler beim Training
einer Übung aus dem Neun Fäuste System


Seine Umgebung hielt Li Shu Wen für einen Verrückten. Diese Art des Trainings vollzog er zwölf Jahre. Nach dieser Zeit schickte ihn sein Meister zu Huang Lin Biao, der neben dem Bajiquan das Pi Gua beherrschte. Dort vervollständigte Li Shu Wen seine Ausbildung und wurde zu einem älteren Bruder geschickt, der vorher bei den selben Meistern gelernt hatte.

Bei dem Treffen der beiden Baji-Experten sollte sich Li Shu Wen in den Ma Bu - Stand, eine Grundstellung, begeben. Sein älterer Bruder Wang Zhong Quan schlug ihn nieder. Wang Zhong Quan sagte zu Li Shu Wen: "Wenn du nicht willst, daß man dich auslacht, dann geh so nicht in die Öffentlichkeit. Mit diesem Gongfu kannst du dich nicht zeigen!"

Danach ging Li Shu Wen zurück in seine Heimat und verließ in seinem alten Dorf drei Jahre lang nicht den Hof. Zu Hause eingesperrt übte er sich diese drei Jahre lang nur in der Verwurzelung. Das Baji-Qigong, wie wir es heute kennen, ist eine Errungenschaft aus dieser Zeit.

Nach den drei Jahren besuchte er noch einmal Wang Zhong Quan und wollte wissen, wie weit er ist. Diesmal sagte Wang Zhong Quan: "Du brauchst mir deinen Ma Bu nicht zu zeigen, ich sehe deine Verwurzelung! Dein Basistraining ist abgeschlossen."

Die letzte Etappe seines Trainings waren Wettkämpfe gegen andere Kämpfer. Sie gingen nach Beijing, um dort gegen berüchtigte und bekannte Kämpfer aller Stile anzutreten. Dies galt im alten China stets als Endetappe der körperlichen Ausbildung. Erst danach wurde der Geist geschult. In den Jahren nach den Kämpfen tauschte sich Li Shu Wen mit anderen hohen Meistern aus. Unter ihnen waren Li Jin Lin, ein Wudang-Schwertkämpfer und Bizi Li, der Begründer des Li Taijiquan sowie verschiedene Shaolin- und Bagua-Meister seiner Zeit.

 

Thorre: Ismet, du kennst dich in mehreren Stilen der chinesischen Kampfkunst sehr gut aus. Worin siehst du die Besonderheiten des Bajiquan? Gibt es Eigenschaften dieses Systems, die es deutlich von den anderen Stilen unterscheiden?


Ismet: Da das Bajiquan im Vergleich zu vielen anderen chinesischen Stilen relativ spät entstand und sich durch viele Vergleiche mit anderen Stilen stets weiterentwickelte, ist die erste Besonderheit, daß es eine vereinende Kampfkunst ist. Vereinend in dem Sinne, daß es Stärken anderer Stile in sich vereint und durch die Vergleiche nach und nach die Schwachpunkte überwand.

Somit enthält es beispielsweise die Wurf-Taktiken des Tai Ji Quan, die Geradlinigkeit des Xing Yi Quan, die Qin Na und die Schlagmöglichkeiten aus dem Ba Gua Zhang. Das heißt aber weder, daß es ein zusammengemischtes System ist, noch daß es "höher" entwickelt ist.

Alle Aspekte der genannten Stile waren als die Acht Grundfähigkeiten in der Urfassung des Systems enthalten, wurden aber nach und nach durch den Austausch immer mehr in eine Form gefaßt. Somit enthält beispielsweise die erste Form Xiao Jia andere Grundaspekte als die zweite Da Jia, oder die dritte Form Liu Da Kai.

 

Bajiquan-Schüler beim
Training der Xiao Jia Form


Es ist ein "abruptes" System - plötzlich und überraschend für den Gegner. Das ist wohl die kürzeste, aber treffendste Aussage über das System.

Bajiquan ist nicht nur auf Würfe oder Schläge begrenzt. Öffnen, die erste Fähigkeit des Wudang-Bajiquan besagt, daß man den Körper in erster Linie öffnet, das heißt Bewegungsfreiheit schafft, damit sich die Aktionsmöglichkeiten vergrößern. Diese Öffnung ist auch weiter interpretierbar, als eine geistige Öffnung, in dem Sinn, daß man sich nicht in einer bestimmten Kampfweise beschränkt. Somit könnte das Bajiquan sich in jede beliebige Kampfmethode oder Kampfdistanz wandeln, auch wenn die hauptsächliche und ursprüngliche Methode des Bajiquan der Nahkampf ist.

Das Zuvorkommen ist die zweite Fähigkeit. Hier geht es um das Unterbinden des gegnerischen Angriffs, und das kann eine schnelle Lösung des Konflikts ermöglichen. Das von Bruce Lee bekannt gemachte System Jeet Kune Do (Pinyin-Schreibweise Jie Quan Dao) basiert gänzlich auf dieser Fähigkeit des Zuvorkommens.

Wenn alle acht Fähigkeiten des Bajiquan vereint erscheinen, ist allerdings nie eine der Fähigkeiten vordergründig zu erkennen. Der Schüler des Bajiquan sollte mit den acht Fähigkeiten beliebig umgehen können.

Es ist ein kompaktes System, welches dennoch weite Techniken einsetzt. Im Vordergrund stehen Geradlinigkeit, Ellenbogenstöße, tiefe Tritte und das Brechen des gegnerischen Gleichgewichts, also das Werfen, ohne selbst mit auf den Boden zu gehen.

 

Thorre: In deinem Bajiquan-Kurs beschäftigen sich die Schüler zunächst mit Bajiquan-Qigong, mit der Xiao Jia - Form und neun Basistechniken, genannt Die Neun Fäuste. Du hast vorhin beschrieben, daß Li Shu Wen viel Zeit mit dem Training der ersten beiden Neun-Fäuste-Techniken verbracht hat. All diese Übungen (das Qigong, die Form und Die Neun Fäuste) stellen ein Bajiquan-Grundlagentraining dar. Welche Fähigkeiten soll der Schüler durch dieses Training entwickeln?

Ismet: Das Baji-Qigong schult die Verwurzelung. Ohne dieses Qigong und die Verwurzelung kann Bajiquan keine wirkliche Fähigkeit vermitteln. Der Praktiker muß mit der Erde verwurzelt sein, um nicht gleich bei der ersten Bedrängnis herumzustolpern. Viele Kämpfer sind zwar sehr stark und flink, doch wenn die Verwurzelung fehlt, werden sie ziemlich leicht zu werfen sein. Beim Baji-Qigong geht es also in erster Linie um die Entspannung des Oberkörpers und die Stabilität der Beine und Stände.

Bei den Neun Fäusten soll die richtige Kraftentwicklung und Schrittarbeit, die Agilität geschult werden. Diese neun Grundübungen sind lediglich Beispiele, welche auch beliebig in andere Bewegungsabläufe umgesetzt werden können, sie decken jedoch das Grundspektrum der Schrittarbeit in alle Richtungen ab.

Kurzgefaßt bilden diese beiden Grundübungen die Basis beim Praktiker, welche aus Verwurzelung und Agilität besteht. Diese beiden Fähigkeiten bilden auch einen Gegensatz, da die Übung der Verwurzelung meist "Schwere" und "Trägheit" mit sich bringt und die Schulung der agilen Schrittarbeit "Abgehobenheit" durch Leichtfüßigkeit. Das ist der Grund dafür, daß auch heute neunzig Prozent aller Profikämpfer entweder nur Stabilität oder nur Beweglichkeit besitzen, man stößt sehr selten auf Kämpfer, die beide Fähigkeiten in sich vereinen.

 

Thorre: Ismet, du hast gesagt, daß das Baji-Qigong die Fähigkeit der Verwurzelung schult. Verwurzelt sein, bedeutet für einen Kämpfer, daß er nicht leicht umzustoßen ist. Das Baji-Qigong ist im Grunde ein Training von hohen, mittleren und tiefen Stellungen, die nacheinander eingenommen und jeweils für eine gewisse Zeit gehalten werden. Wie führt nun dieses Training zur Fähigkeit der Verwurzelung? Geht es dabei nur um die Kräftigung der Beinmuskulatur oder steckt noch mehr dahinter?

Ismet: Das ist eine oft gestellte Frage. Die Meister der chinesischen Künste gingen und gehen immer davon aus, daß die Kultivierung und Entwicklung einer Sache nicht von einer Geheimformel oder Geheimtechniken abhängig ist, sondern schlicht von der Wiederholungszahl. Sehr oft wird hier als Beispiel das Laufenlernen eines Kindes, oder das Erlernen des Schreibens genannt.

Je öfter man schreibt, desto eleganter und besser beherrscht man das Schreiben. Ebenso verhält sich das auch mit der Verwurzelung. Um das Hinfallen zu verhindern, steht man eben sehr lange. Für unsere westliche Welt wäre das verschwendete Zeit, jedoch wird in Fernost seit je her das Verständnis durch die Tat angestrebt. Wir sagen: "Erzähl mir erst, wie das in Theorie funktioniert und ich mache das dann." In der chinesischen Kampfkunst sagt man jedoch: "Ich tue es und weiß danach, wofür es gut ist und wie es funktioniert."

Beim Baji-Qigong werden die Stände zur einer bestimmten Anzahl von Atemzügen gehalten. Wir nehmen eine Stellung ein, atmen durch die Nase tief zum Dan Tian ein-aus, lassen unseren Oberkörper völlig entspannt und stabilisieren unseren Stand über die Atemzüge hinweg durch unsere Beinspannung.

Hierbei entwickelt sich die Beinmuskulatur, insbesondere die Tiefenmuskulatur, also Muskeln, die bei gängigen Muskelaufbauübungen, wie Kniebeugen oder Gewichtestemmen nicht betätigt werden. Durch das stille Stehen über eine Zeit hinweg greifen Muskelgruppen, die bei einer normalen Bewegung nicht betätigt werden. Die Knochendichte nimmt durch den stetigen Fokus zu, und die Sehnen werden innerlich gedehnt. Dazu soll der Oberkörper durch aktive Entspannung geleert werden. All diese Aspekte sind dem Schüler nicht von Anfang an bewußt, sondern entwickeln sich nach und nach.

 

    

Bajiquan-Schüler beim Training der
Xiao Jia Form und Neun Fäuste - Grundübungen


Das geschieht äußerlich. Innerlich passiert folgendes: Die Verwurzelung hängt mitunter vom Energiepunkt Yong Chuan ab, der in Deutschland auch als Nierenpunkt 1 bekannt ist. Das ist der Punkt am Ansatz des Fußballens genau in der Mitte.

Dieser Punkt schließt sich mit den Jahren nach außen hin. Da wir mit dem Aufwachsen und Ausprägen unseres Egos unseren Energiefluß immer mehr nach innen beschränken, schließen sich die Öffnungen Bai Hui, Lao Gong, Ming Men, Dan Tian und Yong Chuan.

Bai Hui wird auf deutsch als Hundert Zusammenkünfte bezeichnet und liegt am Scheitelpunkt des Schädels. Die Lao Gong - Öffnung befindet sich auf dem Mittelpunkt der Handinnenflächen. Ming Men, das Sonnentor, liegt dem Dan Tien gegenüber im unteren Rückenbereich. Das Dan Tian befindet sich unterhalb des Bauchnabels, und Yong Chuan, genannt Sprudelnde Quelle liegt am Ansatz des Fußballens in der Mitte.

Das Schließen dieser Bereiche blockiert unseren Qi-Fluß nach außen. Somit ist auch die energetische Verbindung zwischen menschlichem Körper und Erde unterbrochen. Öffnen sich die Yong Chuan - Punkte der Füße beispielsweise, dann kann der energetische Fluß zwischen Mensch und Erde wieder hergestellt werden, welches selbstverständlich die Verwurzelung positiv beeinflußt.

Bei den Standübungen des Baji-Qigong wird auf verschiedenste Weise auf die Yong Chuan - Punkte von innen heraus energetisch Druck ausgeübt, so daß sich bei kontinuierlicher Praxis nach einer gewissen Zeit diese Punkte von innen heraus nach außen öffnen. Die Energie kann hierdurch zur Erde fließen, und man ist geerdet.

Das wäre die Antwort für westliche Kampfkunstpraktikanten; in China würde man bei der Frage sagen: "Wenn du deine Schläge verbessern willst, dann schlage; wenn du deine Tritte verbessern willst, dann trete; wenn du deine Stände verbessern willst, dann stehe!"

 

Thorre: Du hast Bajiquan vorhin als ein System mit abrupten Bewegungen beschrieben. Bei der Beobachtung von Baji-Meistern fallen diese Bewegungen besonders auf. Sie sehen wie schlagartige Energieentladungen aus, die in kurzer Zeit hohe Kraftwirkungen auf den Gegner übertragen. Wie entwickelt ein Baji-Kämpfer diese erstaunliche Fähigkeit?

Ismet: Diese Art der Energieentladung heißt bei den inneren chinesischen Stilen Fa Jin. Das bedeutet etwa "Laß der verbundenen Kraft ihren Lauf!"

Der erste Schritt zum Fa Jin ist die richtige Strukturarbeit durch Baji-Qigong, wie bereits beschrieben. Denn ist die ganzkörperliche Spannung, Verbundenheit und Struktur nicht da, verliert sich die Kraft des Kämpfers in alle Richtungen, sie ist nicht gebündelt. Der erste Schritt ist also, die richtige Körperspannung zu beherrschen.

Der zweite Schritt ist, sich mit dieser Spannung flexibel bewegen zu können, ohne daß durch die Spannung Steifheit in der Bewegung entsteht. Dafür sind die Neun-Fäuste-Übungen wichtig.

 

Bajiquan-Schüler beim Training
einer Übung aus dem Neun Fäuste System


Der dritte Schritt ist das Fa Li, die Kraftentladung. Hierbei wird die Koordination der Kurzdistanzschläge und -stöße geübt. Das bedeutet, Schläge werden in einer sehr hohen Geschwindigkeit in der Kurzdistanz, meist ein bis zwei Zoll weit, ausgeführt, wobei die Beschleunigung sowie das Beenden der Schläge gleichermaßen plötzlich geschieht. Diese abrupten Bewegungen erfordern einen Höchstmaß an Körperkontrolle, Spannung und Struktur sowie eine außerordentliche Koordinationsfähigkeit, um die Schläge vom Timing her tatsächlich so nutzen zu können, wie man sich das beim Fa Li vorstellt.

Der vierte und letzte Schritt ist dann das Fa Jin. Hier soll zu der vorherigen Stufe des Fa Li noch "essentielle Energie" aus dem Dan Tian einfließen. Das bedeutet, es muß Jing (Essenz) kultiviert sein, um überhaupt Fa Jin ausführen zu können. Äußerlich betrachtet unterscheidet sich das Fa Jin vom Fa Li so gut wie gar nicht, nur geschulte Augen könnten den Unterschied erkennen. Doch oberflächlich ausgedrückt wäre das Fa Li eine körperliche Fähigkeit und das Fa Jin eine energetische.

 

Thorre: Du hast schon ein wenig zu Strategie und Taktik des Bajiquan gesagt. Die ersten zwei Fähigkeiten, das Öffnen und Zuvorkommen, dienen dazu, Bewegungsraum zu schaffen und dem Angriff des Gegners zuvorzukommen. Welche taktischen Prinzipien sind noch wichtig?

Ismet: Als drittes würde hier das Umhüllen kommen. Das bedeutet, nachdem wir uns unseren Bewegungsraum geschaffen haben und dem Gegner zuvorgekommen sind, geht es nun darum, dem Gegner Bewegungsraum zu nehmen, also im Nahkampf so zu agieren, daß jede angefangene Bewegung des Gegners direkt im Ansatz erstickt wird. Das Umhüllen muß ebenso wie die anderen Fähigkeiten sehr lange im Partnertraining geübt werden.

Taktisch wäre aus den acht Fähigkeiten jetzt noch die Wandlungsfähigkeit wichtig. Denn ohne sie ist der Kampf nur zur Hälfte trainiert. Die Wandlungsfähigkeit hilft uns, alle Fähigkeiten unter sich verändernden Bedingungen und Situationen zu nutzen.

So kann beispielsweise das Umhüllen in einer Situation das "Kleben am Gegner" sein, in der anderen Situation gerade das Gegenteil, also das "Lösen vom Gegner". Wendet der Gegner das "Klebenbleiben" an, wird durch "Kontaktlösen" geantwortet. Die Fähigkeit des Umhüllens würde dann in einer anderen Ebene stattfinden, und zwar in der, daß der Gegner durch das ständige Wechselspiel von Attacken und Kontaktunterbrechungen in einer bestimmten Distanz gehalten, "umhüllt" wird.

Wandlungsfähigkeit würde ich hier also als den wichtigsten Aspekt ansehen, obwohl die Basis-Taktiken, wie Öffnen, Zuvorkommen und Umhüllen sich mit der Wandlungsfähigkeit ergänzen!

 

Thorre: Ich habe in deinem Unterricht bereits einige Anwendungsmöglichkeiten der Techniken kennengelernt, die in der Xiao Jia Form enthalten sind. Wie wichtig ist das Partnertraining (Dui Lian) dieser Anwendungen deiner Ansicht nach. Wie streng sollte man sich bei diesem Training an die durch die Form vorgegebenen Bewegungsabläufe halten?


Ismet:
Wenn man die Zeit hat, dann ist das Partnertraining für das Bajiquan ziemlich wichtig und man sollte das regelmäßig zu den üblichen Basis-Übungen trainieren. Formen sind in erster Linie Workouts für die körperlichen und später vielleicht auch seelischen Fähigkeiten. Es sind lediglich Beispiele möglicher Bewegungsabläufe.

 

Fortgeschrittene Bajiquan-Schüler beim Training
der Anwendungen der Xiao Jia Form


Die Anwendung hingegen sieht anders aus. Sie ist frei, frei wandelbar und nicht begrenzt in Abläufen. Doch am Anfang geht man die möglichen Beispiele aus der Form durch. Diese Beispiele geben uns eine mögliche Richtung an und wir erkennen, was sich der Schöpfer dieser Form dabei gedacht hat. Haben wir die Grundidee erfaßt, dann können wir aus den Bewegungen machen, was wir wollen. Es ist dann nichts mehr vorgegeben, und nichts begrenzt unsere Aktionen.

 

Thorre: Die Schrittarbeit spielt beim Bajiquan eine wichtige Rolle. Durch das korrekte Setzen der Füße wird Kraft über den ganzen Körper bis zu den Körperteilen geleitet, die den Gegner packen, stoßen, ziehen oder werfen. Was sind die Besonderheiten der Baji-Schritt-Techniken?

Ismet: Beim Wudang Bajiquan gibt es drei Schrittvarianten. Die erste Variante ist der "Kampfschritt", der auch einfach Jin Bu (Eingangsschritt/ Vorwärtsschritt) heißt. Dieser Schritt verläuft Ziran, das bedeutet "so wie es kommt", also natürlich. Es soll lediglich ein sicheres und schnelles Vorwärtskommen ermöglichen. Es gibt hier fast keine Einschränkungen, bis auf die Tatsache, daß der Fuß beim Schritt etwas höher bewegt wird, als beim normalen Gehen. Dieser Schritt wird in den Formen oder zum Kampfbeginn bevorzugt.

Die zweite Variante ist der "Schnappschritt", Meng Zhua Bu (plötzliches Zuschnappen). Bei der Silbe Meng ist nicht nur die Bedeutung "plötzlich", sondern auch "kräftig" enthalten, so daß hier auch vom "kräftig-plötzlichen Voranschreiten" die Rede ist. Hierbei wird mit dem Fuß regelrecht "vorangeschnappt" und die Fußsohle "klatscht" auf den Boden, wie eine Art Händeklatschen.

 

Bajiquan-Schüler beim Training der Schritt-Übungen
aus dem Neun Fäuste System


Dieser Schritt wird bevorzugt für den Nahkampf genutzt, da jeder Schritt zugleich auch einen Tritt darstellt. Das bedeutet, jeder Hand-Angriff auf den Gegner wird auch mit dem Schritt als Tritt verstärkt und ist gleichzeitig auch ein Tritt zum Knie oder Schienbein oder Unterleib. Bei diesem Schritt wird die "Ha"-Atmung genutzt.

Die dritte Variante ist der sogenannte "Schüttelschritt", Zhen Jiao. Er wird wegen der Fußhaltung unmittelbar vor dem Setzen oft als "Ladungsschritt" übersetzt, doch beim Wudang Bajiquan ist stets von "Erschüttern" - "Schütteln" - "Vibration" - "Beben" die Rede, wie beispielsweise bei Di Zhen - Erdbeben. Dies ist eine Schrittechnik, welche für die Entwicklung von gewaltiger Schlagkraft dient. Sie wird im äußersten Nahkampf eingesetzt, um aus kurzer Distanz die höchste Kraft entwickeln zu können.

Der Schritt wird zunächst auf den Fußballen gesetzt und mit der "Heng"-Atmung schließlich mit einer Spiralbewegung auf die "aufdrehende" Ferse gesetzt. Das hört sich kompliziert und langwierig an, ist jedoch, wenn man es beherrscht, eine Sache von einem Bruchteil einer Sekunde.

Für die Wudang Bajiquan - Übenden ist stets die erste Variante die wichtigste, wobei die darauffolgenden Schrittübungen auf jeden Fall mit der Zeit ebenfalls beherrscht werden müssen.

 

Thorre: Im Baji-Unterricht bei dir werden viele Faust- und Ellbogenstöße geübt. Es existieren auch eine Reihe von Hebeln und Würfen. Hohe Schläge mit den Beinen findet man statt dessen selten. Wie würdest Du das technische Repertoire des Bajiquan beschreiben?

Ismet:
Beim Bajiquan geht es in erster Linie um Distanzüberwindung und die dazugehörigen Eingangsbewegungen und -prinzipien. Es wird sehr viel Wert auf Hand-Schlagdistanz, Ellenbogen-Kniedistanz und auf Wurfdistanz gelegt. Die Trittdistanz und der Bodenkampf werden beim traditionellen Bajiquan nicht ausgiebig trainiert.

Der Bodenkampf war früher im Krieg nicht wichtig, da, wenn man einmal auf den Boden lag, man den Speeren und Lanzen der gegnerischen Krieger ausgeliefert war. Deshalb ließ man beim Bajiquan, welches ebenfalls eine Kriegskunst ist, den Bodenkampf, aber auch die Trittschulung außen vor. Die Trittdistanz, wenn man es nicht ausgiebig schulte, stellte eine Gefahr dar. So sagte man: "Mit einem Bein in der Luft, mit dem anderen Bein im Grab!"

Heute verhält sich das natürlich anders, wenn es um Vergleichskämpfe mit Regeln geht. Dennoch haben sich die traditionellen Prinzipien bis heute erhalten. Beim offenen Schlagabtausch in der Handdistanz kommen auch tiefe Tritte vor. Die Ellenbogen-, Knie-, Clinch-Distanz und die gesamte Wurfdistanz wird ausgiebig trainiert. Besonders das Werfen, ohne mit dem Gegner zusammen auf den Boden zu gehen, ist eine sehr wichtige Praxis.

 

Thorre: Gibt es Personen, denen du aus gesundheitlichen Gründen generell vom Baji-Training abraten würdest? Das Training ist physisch ziemlich anstrengend. Sollten beispielsweise Menschen mit Knie- oder Rückenproblemen grundsätzlich eine sanftere Kunst üben?

Ismet: Generell würde ich keinem vom Bajiquan-Training abraten wollen, es geht lediglich darum, ob man sich selber in der Verfassung sieht, diese Art des Trainings zu absolvieren oder nicht. Bei Knie- und Rückenproblemen würde ich sogar gerade zum Baji-Qigong im höheren Bassin raten, welches allgemein die Stellungen höher stehen läßt.

Thorre:
Vielen Dank für dieses aufschlußreiche Interview.